Während den Vorbereitungen zum Dreh von Lawrence von Arabien machte sich der Produzent Sam Spiegel auf die Suche nach einem Filmkomponisten, der die Geschichte von T.E. Lawrence mit Musik unterlegen konnte: Wie Maurice Jarre später darlegte, waren ursprünglich drei Komponisten für die Musik von Lawrence von Arabien vorgesehen gewesen: Der sowjetisch-armenische Komponist Aram Chatschaturjan sollte sich um die arabische Musik kümmern, der britische Komponist Benjamin Britten um die britische Musik und Maurice Jarre sollte den Rest komponieren.
Die Zusammenarbeit mit Chatschaturjan musste wegen des Eisernen Vorhangs eingestellt werden und Britten verlangte über ein Jahr Zeit, um den Soundtrack zu verfassen – das nützte dem Produzenten nichts: Die Filmmusik musste schneller fertig werden.
Maurice Jarre erhielt den Auftrag, die Filmmusik zu Lawrence von Arabien innerhalb von sechs Wochen zu verfassen und aufzunehmen: Jarre nahm die Herausforderung an und kreierte einen der charaktervollsten Soundtracks des 20. Jahrhunderts. 

Radioingenieur

Die Musik spielte in Maurice Jarres frühem Leben nur eine untergeordnete Rolle: Man hatte für ihn die Laufbahn eines Radioingenieurs auserkoren. Mit 16 Jahren stellte Maurice Jarre fest, dass die Laufbahn eines Radioingenieurs ihn nicht glücklich machen würde: Er teilte seiner Familie den Entschluss mit, dass er nach Paris gehen wolle, um dort am Conservatoire de Paris Musik zu studieren.
Rückblickend sagte Jarre später, er habe zu dieser Zeit nicht einmal Klavier spielen können und seine gesamte Familie habe sich über ihn lustig gemacht. Am Konservatorium angekommen, entwickelte er schon bald eine Leidenschaft für Perkussionsinstrumente: Es dauerte nicht lange, bis er als Percussionist in renommierten Orchestern tätig war. Perkussionsinstrumente spielten später in einigen seiner bekanntesten Soundtracks eine große Rolle. Ab 1950 wurde er der musikalische Leiter des Théâtre National Populaire in Paris und schrieb während dieser Zeit die Schauspielmusik zu mehr als siebzig Theaterstücken. 

Er schaffte mit seiner Musik einen Kontrast zwischen der auf der Kinoleinwand gezeigten Monumentalität und seinen eigenen, oft zart anmutenden Musikstücken.

Erste Werke

1952, zwei Jahre später, begann Maurice Jarre mit dem Komponieren von Filmmusik: Mit der Musik zu Der Invalidendom [Hôtel des Invalides] komponierte Jarre seine erste Filmmusik. War Maurice Jarre anfangs noch bei weniger hochkarätigen Produktionen für die Musik verantwortlich, steigerte er sich im Laufe der Jahre immer weiter: 1961 verfasste er die Filmmusik zu Henri Verneuils Der Präsident [Le Président] mit Jean Gabin in der Hauptrolle. Ein Jahr später war er für die Filmmusik zu Sonntage mit Sybill [Les Dimanches de Ville D’Avra, 1962] mit Hardy Krüger in der Hauptrolle verantwortlich. Man kann sagen, Maurice Jarre hatte einen Instinkt dafür, sich Produktionen herauszusuchen, die nachfolgenden Generationen durch ihre Monumentalität besonders erhalten bleiben würden. Jarres Musik war jedoch nicht nur monumental: Er schaffte mit seiner Musik einen Kontrast zwischen der auf der Kinoleinwand gezeigten Monumentalität und seinen eigenen, oft zart anmutenden Musikstücken.
So verfasste Jarre unter anderem zum französischen Film Dünkirchen, 2, Juni 1940 [Week-end à Zudycoote, 1964] die Musik. Auch vor Rennsportfilmen schreckte Maurice Jarre nicht zurück: Für den Film Grand Prix (1966) mit Yves Montand in einer der Hauptrollen verfasste er die Musik. Die Musik der Monumentalrproduktion Brennt Paris? [Paris brûle-t-il?, 1966] schloss sich an. 

Lawrence von Arabien – Ondes Martenot

Als Maurice Jarre die Musik zu Lawrence von Arabien komponierte, hatte die Schallplattenfirma nur sehr wenig Vertrauen in ihn: Zwar war Jarre als Komponist aufgeführt, als Dirigent der Aufzeichnung war aber Adrian Boult genannt. Boult stand bei den Aufnahmen zum Soundtrack jedoch nie am Dirigentenpult – die Nennung seines Namens war schlichtweg eine Publicity-Strategie. Die Bedenken der Plattenfirma, der Soundtrack würde sich nicht vermarkten lassen, erwiesen sich als unbegründet: Einen der insgesamt sieben Oscars, mit denen Lawrence von Arabien, ausgezeichnet wurde, erhielt Maurice Jarre für seinen Soundtrack.
Für den Soundtrack zu Lawrence von Arabien arbeitete Maurice Jarre mit einem speziellen französischen Instrument, den Ondes Martenot. Bei den Ondes Martenot handelt es sich um ein elektronisches Instrument, das wie ein Piano über Tasten verfügt, aber ein wesentlich größeres klangliches Spektrum umfasst.
Für die Aufnahmen des Soundtracks wurden eigens Ondes Martenots aus Frankreich importiert und in den englischen Aufnahmestudios installiert. Außerdem musste man Musiker aus Paris einfliegen, die im Umgang mit dem exotischen Instrument geschult waren.

Jarre schrieb nach seinen eigenen Angaben am liebsten für David Lean Musik – man kann beinahe sagen, dass die beiden ein kreatives Duo waren, das voneinander abhängig war.

David Lean

Obwohl die Zusammenarbeit mit dem Regisseur David Lean nicht immer einfach gewesen sein soll, arbeitete Maurice Jarre 1965 erneut mit Lean zusammen: Jarre komponierte die Filmmusik zu Doktor Schiwago. Auch bei diesem Soundtrack kamen die Ondes Martenot wieder zum Einsatz, diesmal transportierte das Instrument nicht die Einsamkeit der Wüste, sondern die eisige Kälte Russlands. David Lean soll eine erste und zweite Fassung des bekannten Lara’s Theme abgelehnt haben und Jarre geraten haben, er solle „nicht an Russland oder Doktor Schiwago denken, sondern an seine Freundin.“ Jarre ließ sich das nicht zweimal sagen: Innerhalb von einer Stunde hatte er Lara’s Theme komponiert: Doktor Schiwago mit Omar Sharif in der Hauptrolle wurde einer der größten Kinoerfolge der Sechziger – Jarres Soundtrack war an diesem Erfolg maßgeblich beteiligt.
Ein Wiedersehen mit Peter O’Toole und Omar Sharif gab es, als Jarre die Filmmusik zu Die Nacht der Generale [The Night of the Generals, 1967] schrieb. 

In den Sechzigern und Siebzigern verfasste Maurice Jarre fast jedes Jahr mehrere Filmmusiken – die Filmmusiken, die Jarre für David Lean schrieb, sollen jedoch stets die anstrengendsten Arbeiten gewesen sein. Trotzdem schrieb Jarre nach seinen eigenen Angaben am liebsten für David Lean Musik – man kann beinahe sagen, dass die beiden ein kreatives Duo waren, das voneinander abhängig war.

Vermächtnis

Jarre schrieb insgesamt für vier David Lean-Filme die Filmmusik: Angefangen mit Lawrence von Arabien, erstreckte sich die Zusammenarbeit über Doktor Schiwago, Ryans Tochter [Ryan’s Daughter, 1970] mit Robert Mitchum in der Hauptrolle und endete schließlich mit Reise nach Indien [A Passage to India, 1984]. Für drei der David Lean-Filmmusiken gewann Maurice Jarre den Oscar für die beste Filmmusik. Gemeinsam mit Filmkomponisten wie Ennio Morricone zählte Maurice Jarre zu jenen Komponisten, die zwar zahlreiche Hollywood-Filme musikalisch untermalten, dabei aber die Welt des europäischen Films nie vernachlässigten. Neben seiner Arbeit für den legendären Filmregisseur David Lean verewigte sich Maurice Jarre mit Filmmusiken wie jene zu Der Club der toten Dichter [Dead Poets Society, 1989] mit Robin Williams in der Hauptrolle. Mit solchen Filmmusiken stellte er unter Beweis, dass er nicht unbedingt eine Monumentalproduktion als Vorlage brauchte, um eine bewegende Filmmusik abzuliefern.
Maurice Jarre gehört mit Jerry Goldsmith und Ennio Morricone in die Riege der einflussreichsten Filmkomponisten des 20. Jahrhunderts: Besonders mit seiner Filmmusik zu Lawrence von Arabien verewigte sich Maurice Jarre, dessen musikalische Gestaltungskunst bis heute unerreichbar geblieben ist. 

Simon von Ludwig


Maßgebliche Quelle: u.a. ein Interview mit Maurice Jarre via spirit-fanzine.de

Beitragsbild: © Simon von Ludwig


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