Ganz anders als sein Idol und Mentor Jean Gabin musste Lino Ventura keinen Trip durch die europäischen Varietés und Music Halls absolvieren, bevor er vor eine Filmkamera trat: Der italienische Schauspieler soll von Jean Gabin ermuntert worden sein, zum ersten Mal vor eine Filmkamera zu treten. Die Kindheit von Gabin und Ventura verlief nicht ganz unähnlich: Wie Gabin auch schlug sich Ventura mit Gelegenheitsjobs durch, so arbeitete er als Hoteljunge, Büroangestellter oder Handelsvertreter.
Lino Ventura erhielt seine erste Filmrolle in Wenn es Nacht wird in Paris [Touchez pas au grisbi, 1953], in dem Jean Gabin die Hauptrolle spielte. In den folgenden Jahren nahm Gabin den fünfzehn Jahre jüngeren Lino Ventura unter seine Fittiche: Oft wird kommentiert, Ventura habe viele seiner Rollen in den Fünfzigern im Schatten Jean Gabins gespielt, andere Meinungen sagen, Gabin habe Venturas Karriere mit genau diesen Nebenrollen den Startschuss gegeben. 

Ikone des französischen Kinos

In den Sechzigern spielte Ventura zum ersten Mal größere Rollen: Im Krimi Der Panther wird gehetzt [Classe Tous Risques, 1960] teilte sich Ventura mit Jean-Paul Belmondo die Hauptrolle.
Obwohl Lino Ventura aus Italien stammte, avancierte er schon bald zu einer Ikone des französischen Kinos: Seine Wurzeln liegen im französischen Kino, wo Jean Gabin den jungen Ventura förderte. In Marie-Octobre (1959) spielte Lino Ventura eine seiner bekanntesten Rollen:
Der französische Kammerspiel-Film unter der Regie von Julien Duvivier dreht sich rund um den französischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs.
1961 gab ihm er italienische Regisseur Vittorio de Sica in Das Jüngste Gericht findet nicht statt [Il giudizio universale] eine der Nebenrollen: Nun entdeckte auch der italienische Film Lino Ventura für sich. 

Erst langsam avancierte er zum Charakterdarsteller. 

Wrestling

Vor seiner Karriere als Schauspieler ging Lino Ventura einer Tätigkeit nach, die ganz und gar nichts mit der Leinwand zu tun hatte: Schon in jungen Jahren hatte er das Wrestling für sich entdeckt. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg musste er die Ausübung dieses Sports wegen einer Verletzung aufgeben, in der Folge organisierte er stattdessen Wrestling-Wettkämpfe. Dieser Tätigkeit, die ihm finanziellen Freiraum verschaffte, ging Lino Ventura bis zum Start seiner Schauspielkarriere nach.
Wegen seines markanten Auftretens und imposanten Statur wurde Ventura zum Anfang seiner Schauspielkarriere vor allem als Leibwächter und Figur der Unterwelt besetzt. Erst langsam avancierte er zum Charakterdarsteller. 

Film noir

Zunächst erwartete Lino Ventura gar nicht, eine erfolgreiche Karriere als Schauspieler vor sich zu haben: Die ersten Jahre organisierte Ventura weiterhin Sportwettkämpfe und spielte nur gelegentlich in Filmen mit. Doch schon bald stellte sich heraus, dass Ventura der ideale Schauspieler für das Genre des film noir war: Spätestens mit seiner Rolle in Der Gorilla lässt schön grüßen [Le Gorille vous salue bien, 1958] wurde Lino Ventura zu einem gefragten Star des französischen Kinos.
Im Antikriegsfilm Taxi nach Tobruk [Un taxi pour Tobrouk, 1961] spielte Lino Ventura an der Seite von Hardy Krüger und Charles Aznavour. Der Film Taxi nach Tobruk bewies, dass Lino Ventura Anfang der Sechziger endgültig den Sprung zum Charakterdarsteller absolviert hatte: Der Film zeigt die Sinnlosigkeit und Trostlosigkeit von kriegerischen Auseinandersetzungen auf und verlangte den Darstellern, die selbst den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatten, schauspielerisches Können ab. 

Die Valachi-Papiere

In den Fünfzigern und Sechzigern war der Name von Lino Ventura vor allem für das französische und italienische Publikum ein Begriff: Mit seiner Rolle des Mafiosi Vito Genovese im Mafiafilm Die Valachi-Papiere [Carteggio Valachi, 1972] an der Seite von Charles Bronson wurde der Name Lino Ventura auch dem internationalen Kinopublikum ein Begriff. Der Film passte in den Siebzigern perfekt in die Zeit: In den Siebzigern entstanden zahlreiche Mafiafilme, Der Pate entstand im gleichen Jahr wie Die Valachi-Papiere. Nach fast zwei Jahrzehnten im Showbusiness wurde Lino Ventura so auch beim jüngeren Publikum bekannt.
Infolge seiner Rolle als Mafiosi in der erfolgreichen Produktion rund um den Mafiaboss Valachi bot man ihm in Hollywood zahlreiche weitere Rollen an, die wohl in ein ähnliches Rollenrepertoire fielen: Wie viele andere französische Schauspieler des 20. Jahrhunderts wahrte er stets Distanz zu Hollywood und konzentrierte sich auf das französische und italienische Kino. 

Der gebürtige Italiener war ein Mann von Format.

Die Dreigroschenoper

1963 wagte Lino Ventura einen Abstecher in den deutschen Film: In der Adaption des Bühnenstücks Die Dreigroschenoper spielte Lino Ventura an der Seite von Gert Fröbe, Curd Jürgens und Hildegard Knef. Wolfgang Staudte führte bei der Verfilmung des Brecht-Stücks Regie.
Der französische Regisseur Claude Pinoteau sagte einst über Lino Ventura, er habe nie perverse oder schurkenhafte Personen gespielt. Die Rollen, die er spielte, hatten sich stets mit ihm zu identifizieren, nicht er mit ihnen. Wenn er eine Rolle annahm, gab er sich nicht zufrieden damit, wenn man ihm ein endgültiges Skript hinlegte: Er diskutierte stets die Rolle und die Dialoge mit dem Regisseur und schlug Änderungen vor. Ventura akzeptierte es nicht, für ihn vorgefertigte Dialoge vorzutragen – ging es um eine große Rolle, wollte Ventura bei ihrer Ausgestaltung stets mitsprechen.

Wer von Lino Ventura Starallüren erwartete, war an der falschen Adresse: Die Schauspielerei war etwas für ihn, das jeder erlernen konnte und ihm kam es gar nicht in den Sinn, sich selbst auf einen künstlerischen Thron zu heben. Diese Einstellung hielt ihn stets am Boden und ermöglichte es ihm, als Darsteller konstante Arbeit zu leisten.
Nicht ohne Grund arbeiteten mit ihm viele der französischen Meister der Regiearbeit wie Julien Duvivier und Jean-Pierre Melville besonders gerne zusammen.
Im Laufe seiner Karriere wählte Lino Ventura seine Rollen sehr genau aus: Die Rollen, die er spielte, trugen oft Persönlichkeitszüge, die auch bei ihm selbst zu finden waren.  

Abgelehnte Rollenangebote

Obwohl Lino Ventura gebürtiger Italiener war, wurde er zum Inbegriff des französischen Kinos:
Trotz zahlreicher Rollenangebote aus Hollywood in den Siebzigern – darunter Die Drei Tage des Kondor [Three Days of the Condor, 1975], Unheimliche Begegnung der dritten Art [Close Encounters of the Third Kind, 1977] und Apocalypse Now (1979), die Ventura alle ablehnte, blieb er in Europa.
Im Laufe seiner Karriere, die sich zwischen 1954 und 1987 über mehr als dreißig Jahre erstreckte, spielte Lino Ventura in 75 Spielfilmen mit. Der gebürtige Italiener war ein Mann von Format: Seine eindrucksvolle Bühnenpräsenz und stilsichere Schauspielkunst machen ihn zu einem der Gründe, weshalb klassische französische Spielfilme sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen. 

Simon von Ludwig

Film & Fernsehen bei Der Bussard

Beitragsbild: © Simon von Ludwig

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