Es ist ein einmaliges Gefühl, das einen durchströmt, wenn man sich eine Aufnahme der Fünften Symphonie von Beethoven, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt, anhört: Bei seinem Abschied im November 2011 vom Orchester der Philharmonia Zürich schaffte er etwas, wozu nur wenige Dirigenten seiner Generation in der Lage gewesen sind. Im Vorfeld des Konzerts inszenierte Harnoncourt ein einzigartiges Probensetting: Er lud alle Musiker der Philharmonia Zürich in seinen Wohnsitz nach St. Georgen in Oberösterreich ein, um dort die Fünfte Symphonie von Beethoven und Mozarts Serenade Gran Partita zu proben. Jenes Probensetting aus dem Spätherbst 2011 bleibt den beteiligten Musikern bis heute eindrucksvoll in Erinnerung.
Das Konzert ist nicht nur Harnoncourts Abschlusskonzert von einem Orchester mit Weltklasse-Format: Das Konzert zeigt Harnoncourt auf dem musikalischen Höhepunkt seiner Karriere, zu einem Zeitpunkt, als er seine interpretatorische Begabung als Dirigent vollends ausleben konnte.
Es war kein Zufall, dass Harnoncourt gerade der Philharmonia Zürich ein solches Abschiedskonzert widmete: Zürich nahm in Harnoncourts Karriere als Dirigent eine besondere Rolle ein.

Er war bestrebt, die Alte Musik in den Kontext der modernen Welt der Klassischen Musik einzuordnen.

Dasein als Cellist

Harnoncourt war mehr als ein Dirigent, der am Dirigentenpult stand und seiner Arbeit nachging. Bei seiner Arbeit bewegte ihn die Zukunft der Klassischen Musik und die öffentliche Wahrnehmung jenes Musikgenres, dem er sein ganzes Leben verschrieben hatte.
So setzte sich Harnoncourt im Laufe seiner Karriere für die Belange der Alten Musik ein. Er war bestrebt, die Alte Musik in den Kontext der modernen Welt der Klassischen Musik einzuordnen. Entgegen der allgemein verbreiteten Auffassung legte Harnoncourt Wert darauf, dass der Begriff Alte Musik musikalische Werke bis 1900 einschloss.
Ursprünglich war Nikolaus Harnoncourt gar kein Dirigent: Bevor sich Harnoncourt den Ruf eines Weltklasse-Dirigenten erarbeitete, war er ein Cellist. Nach seinem Cello-Studium an der Wiener Musikakademie, das er 1952 abschloss, wurde er im gleichen Herbst als Cellist bei den Wiener Symphonikern unter Chefdirigent Herbert von Karajan unter Vertrag genommen. Diesen Posten sollte er bis 1969, ganze siebzehn Jahre, innehaben. In dieser Zeit war an eine Dirigentenkarriere nicht zu denken. Dennoch pflegte Nikolaus Harnoncourt auch zu dieser Zeit weit mehr als nur ein Cellisten-Dasein…

Concentus Musicus Wien

Kaum war er bei den Wiener Symphonikern verpflichtet, gründete er bereits den Concentus Musicus Wien, ein Ensemble für Alte Musik. Obwohl das Ensemble erst Ende der Fünfziger regelmäßig Konzerte gab und Aufnahmen einspielte, avancierte es zu einem der Grundpfeiler von Harnoncourts Vermächtnis als Musiker.
Gemeinsam mit dem Concentus Musicus Wien ging Nikolaus Harnoncourt 1960 auf die erste Europa-Tournee und 1966 auf die erste Tournee durch die Vereinigten Staaten. In aller Welt stärkte Harnoncourt mit dem Concentus Musicus Wien die Sensibilität für Alte Musik: Ab 1973 gab der Cellist sein Wissen über die Alte Musik als Professor an der Hochschule Mozarteum in Salzburg weiter. Wie kam es dazu, dass Harnoncourt seinen Fokus eines Tages vom Cellospielen auf das Dirigieren verlegte? Zunächst einmal sollte man sich vor Augen führen, dass Harnoncourt den Concentus Musicus vom Cello aus leitete. Der Musiker war darin bestrebt, auch andere Orchester und Ensembles vom eigenen Instrument aus zu leiten – doch das funktionierte nicht überall so gut wie beim Concentus Musicus. Ab einem gewissen Punkt in seiner Laufbahn hatte Nikolaus Harnoncourt keine andere Wahl, als den Posten des Dirigenten zu übernehmen – 1972 gab der Musiker an der Piccola Scala in Mailand sein Debüt als Dirigent. Er dirigierte Monteverdis Il ritorno d’Ulisse in patria. Es war der Anfang seiner Laufbahn als Dirigent.

Im Leben der Familie rund um Nikolaus Harnoncourt gab es vor allem eines: Die Musik.

Alte Musikinstrumente – der Zugang zur Alten Musik

Neben seiner Leidenschaft für die Alte Musik verfolgte Nikolaus Harnoncourt eine weitere große Leidenschaft: Für Harnoncourt stellte es einen besonderen Reiz dar, alte und kostbare Musikinstrumente zu sammeln. Der Musiker stellte fest, dass es anders klingt, wenn man Alte Musik auch auf alten Instrumenten spielt – viele der wertvollen Instrumente aus Harnoncourts Sammlung fanden in der Arbeit des Concentus Musicus Verwendung. 
Die Familie des Musikers nahm sogar große Entbehrungen auf sich, um den Erwerb von wertvollen Musikinstrumenten zu finanzieren. Im Leben der Familie rund um Nikolaus Harnoncourt gab es vor allem eines: Die Musik.
Im Rahmen zahlreicher USA-Tourneen in den Siebzigern brachte der Concentus Musicus auch einem Publikum außerhalb Europas Harnoncourts Vorstellung und Interpretation der Alten Musik nahe: Bei solchen Tourneen ging es vor allem um den künstlerischen Aspekt, einen materiellen oder finanziellen Gewinn brachten sie nicht wirklich. Im Auftrag der Alten Musik reiste das Ensemble kreuz und quer durch die Welt und die Verantwortlichen waren froh, wenn sich die Reisekosten amortisierten. Etwaige Gewinne wären nicht in die materielle oder persönliche Bereicherung geflossen, sondern in die Ensemblearbeit und in die Leidenschaft für alte Musikinstrumente. 

Der adäquate Klang

Nikolaus Harnoncourt war ein Pionier der historischen Aufführungspraxis: Er sah die „Musik als Klangrede“, wie er in seinen zahlreichen musikphilosophischen Schriften bekundete. 
Um die Aufführung eines historischen Werkes bestmöglich zu realisieren, mussten verschiedene Faktoren erfüllt sein – einer dieser Faktoren war die Verwendung alter Musikinstrumente. Doch es genügte nicht alleine, alte Musikinstrumente zu verwenden, wie Harnoncourt einst in einem Interview bekundete:

„Wenn ich singe, dann produziere ich einen Originalklang. Bei einem Streichinstrument, wenn ich ein Streichinstrument von Stradivari von 1700 habe, dann habe ich nicht den Klang von 1700 – erstmal. Ich spiele meine Klangvorstellung da hinein, wenn der Geiger von 1700 darauf spielen würde, dann würde der lachen, über das, was ich da mache. Es ist bei allen Instrumenten ähnlich, mit denen ein Mensch zu tun hat. Ich kann aber versuchen, das Ganze in Übereinstimmung zu bringen mit dem Geist der betreffenden Zeit. Wenn ich das dann vergleiche mit den Klängen, die in der Zeit davor und danach produziert wurden, dann kann ich zu etwas kommen, das ich – ich würde das nicht wirklich Originalklang nennen – dazu bin ich viel zu skeptisch. Aber, etwas, das ich als einen adäquaten Klang der entsprechenden Zeit bezeichnen würde. Und es stellt sich heraus, dass ich mit diesem Klang viel besser die Musik dieser Zeit produzieren kann und reproduzieren kann und wieder verstehbar machen kann.“ 

„Die Kunst garantiert unser Mensch-Sein“

Der von Harnoncourt ins Leben gerufene Concentus Musicus bewährte sich im Laufe der Jahre immer wieder als Opernorchester: Bis heute ist der Concentus Musicus Wien eines der weltweit renommiertesten Orchester für Alte Musik und ist darauf spezialisiert, die Klassische Musik längst vergangener Epochen in den modernen Kontext einzuordnen.
Es ist davon auszugehen, dass es ohne Harnoncourt den Concentus Musicus in seiner heutigen Form keineswegs gäbe. Seine Leidenschaft für die Musik bewegte ihn, mehr zu tun als „nur“ das Cello zu spielen. Bereits sehr früh in seiner Karriere stand für ihn fest, dass er sein eigenes Ensemble gründen wollte, mit dem er das Kulturgut vergangener musikhistorischer Epochen authentisch in die Gegenwart transferieren würde.
Trotz seiner großen Erfolge als Dirigent nahm er niemals den Posten eines Chefdirigenten bei einem großen Orchester an – für ihn wäre ein solcher Posten bloß eine Einschränkung seines künstlerischen Potenzials gewesen.
Nikolaus Harnoncourt ist bis heute einmalig unter den Dirigenten der modernen Zeit: Die „Kunst garantiert unser Mensch-Sein“ formulierte Harnoncourt einmal in einer Rede zum Abschluss des Mozart-Jahres 1991 – getreu diesem Motto verschrieb der Cellist und Dirigent sein ganzes Leben der Klassischen Musik.

Simon von Ludwig


Der Bussard dankt dem Residenz Verlag für die Zusammenarbeit.
Die Zusammenarbeit umfasste die Bereitstellung der Biographie „Nikolaus Harnoncourt. Vom Denken des Herzens. Eine Biographie.“ von Monika Mertl. Das Werk diente als maßgebliche Quelle für den Artikel.

Informationen zur Publikation: Mertl, Monika: Nikolaus Harnoncourt. Vom Denken des Herzens. Eine Biographie, 2011 Residenz Verlag

Weitere Quellen: Die Biographie auf harnoncourt.info. Das Zitat stammt aus einem Interview von 2009.

Beitragsbild: Nikolaus Harnoncourt (Bildmitte) 1980 in Amsterdam
Bildnachweis: Fotograaf Dijk, Hans van / Anefo, Nationaal Archief, CC0


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