Der Philosoph Theodor W. Adorno formulierte einst, die musikalische Bildung eines Menschen beginne neun Monate vor seiner Geburt. Christa Ludwig bekam die Musik von ihren Eltern wortwörtlich in die Wiege gelegt: In ihren Memoiren schreibt Ludwig, ihre musikalische Ausbildung habe wohl begonnen, als ihre Mutter die Carmen sang, als sie schwanger war. Ludwigs Mutter Eugenie Besalla-Ludwig (1899–1993) war Altistin: Zeit ihres Lebens war ihre Mutter Ludwigs einzige Gesangslehrerin, die ihre stimmliche Entwicklung fast bis zum Ende der Karriere ihrer Tochter beobachten konnte. Ihre Mutter war Zeit ihres Lebens Christa Ludwigs Gesangslehrerin.
Ludwigs Karriere als Opernsopranistin begann kurz nach dem Zweiten Weltkrieg: In sehr kleinen Nebenrollen beeindruckte die junge Christa Ludwig das Publikum. Schon früh wurde erkannt, dass Ludwig das Potenzial zu mehr besaß als zu kleinen Nebenrollen.
Zwar erhielt Christa Ludwig schon als Kind gesangliche Ratschläge von ihrer Mutter, doch die junge Sopranistin lernte ihr Handwerk hauptsächlich auf der Bühne: Junge Sängerinnen wie Ludwig waren nicht zuletzt deshalb in den Nachkriegsjahren so begehrt, weil sie schnell lernten und keine hohen Gagenansprüche stellten. Befand sich unter den Sängerinnen ein außergewöhnliches Talent wie Ludwig, gab es außerdem die Möglichkeit, dieses Talent weiter auszubilden.

Durch Misserfolge lernt man bekanntlich mehr als durch Erfolge. 

Erste große Rollen

So kam es, dass Christa Ludwig ab 1946 einen Vertrag als Opernsängerin im völlig zerbombten Frankfurt am Main erhielt. Dort debütierte sie 1946 in der Fledermaus (Johann Strauß) als Prinz Orlofsky.
An der Frankfurter Oper vertraute man der 23-jährigen Ludwig bereits 1951 eine der Hauptrollen im Rosenkavalier (Richard Strauss) an.

Wie viele junge Sänger war sich Christa Ludwig zu dieser Zeit noch nicht komplett ihrer Gesangstechnik sicher. In ihren Memoiren berichtet Ludwig, dass sie viele der größeren Rollen, die man ihr zu dieser Zeit gab, nicht vollständig ausfüllen konnte, weil die Höhen in ihrer Stimme noch fehlten. Außerdem war zu dieser Zeit noch nicht ganz klar, ob sie eine Altstimme oder eine Mezzosopranstimme besaß.
Ludwig versuchte deshalb, bei der Intendanz zu erreichen, in anderen Rollen spielen zu können – doch man lehnte Ludwigs Anregung entschieden ab: Ziel war es, dass sich die Stimme der jungen Sopranistin auf der Bühne entwickelte, nicht nur in Gesangsstunden.
Zwar musste Ludwig so hinnehmen, in den Zeitungskritiken nicht immer gut dazustehen, doch das war es wert: Durch Misserfolge lernt man bekanntlich mehr als durch Erfolge. 

Der Weg nach Wien

Erst im Laufe der Jahre kristallisierte sich heraus, dass Christa Ludwig eine Mezzosopranstimme besaß. Mezzosoprane haben es verglichen mit anderen Stimmlagen besonders schwierig, betont Ludwig in ihren Memoiren: Mezzosoprane verfügen in der Tiefe über die charakteristische Bruststimme, über eine Mittelstimme und in der Höhe über die Kopfstimme.
Die eigentliche Herausforderung ist nicht, diese Stimmen einzeln zu kontrollieren, sondern in einen Einklang zu bringen. Genau das lernte Christa Ludwig in ihrer frühen Karriere und die Tatsache, dass man sie schon recht früh mit größeren Rollen betraute, beschleunigte den Lernprozess.
Der Dirigent Karl Böhm, damals Direktor der Wiener Staatsoper, lud Christa Ludwig 1955 dazu ein, bei ihm vorzusingen: Ludwig war zunächst alles andere als begeistert von der Vorstellung, zukünftig in Wien zu arbeiten und aus ihrer Heimat wegzuziehen. Sie habe sich zu dieser Zeit sogar überlegt, die Gesangskarriere zu beenden, eine Familie zu gründen und sich niederzulassen.
Doch am Ende war die Aussicht auf eine erfolgreiche Karriere als Mezzosopranistin verlockender: Karl Böhm engagierte Christa Ludwig und war fortan ihr „Wiener Mentor“, wie Ludwig in ihren Memoiren beschreibt. 

Seconda Donna

Christa Ludwig kniete sich in jede Vorstellung an der Wiener Staatsoper hinein: Ein Impresario an der Staatsoper meinte, so etwas solle sie erst machen, wenn sie in eine wesentlich höhere Gehaltsklasse aufsteige. Solange sie ein für Opernsänger durchschnittliches Gehalt erhielt, sei es zwar ratsam, eine solide Leistung abzuliefern, aber man solle sich noch nicht künstlerisch aufopfern.
Doch Ludwig sah das anders: Sie konnte nicht anders, wie sie in ihren Lebenserinnerungen beschreibt. Für sie machte es nur Sinn, als Mezzosopran tätig zu sein, wenn sie sich jedes Mal aufs Neue mit Leidenschaft ans Werk machte.
Der Titel ihrer Lebenserinnerungen, … und ich wäre so gern Primadonna gewesen, verrät dem Leser eines: Christa Ludwig war meist die Seconda Donna, nicht die Primadonna. Zwar durfte sie mit typischen Sopran-Partien wie der Marschallin im Rosenkavalier oder der Ariadne in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss auch erfahren, was es bedeutete, Primadonna zu sein: Doch sie stellte fest, dass die Rolle der Primadonna ihr nicht wirklich gefiel.
Für Ludwig selbst war das keineswegs nachteilig: Sie überließ die Rolle der Primadonna lieber anderen Opernsängerinnen wie Maria Callas oder Montserrat Caballé

Liederabende

Im Mai 1957 gab Christa Ludwig ihren ersten Liederabend im Wiener Konzerthaus: Gemeinsam mit dem Pianisten Erik Werba stellte Ludwig ein Programm aus Wolf-, Mahler- und Strauss-Liedern zusammen. Für einen Opernsänger ist es alles andere als einfach, neben der Tätigkeit auf der Opernbühne Liederabende zu geben: Ein Opernsänger, der ein ganzes Begleitorchester gewohnt ist, muss seine Stimme vollkommen neu modulieren, wenn er bei einem Liederabend stattdessen nur von einem Klavier begleitet wird. Bei einem Liederabend steht die Stimme des Sängers wesentlich mehr im Vordergrund als bei einer Operninszenierung.
Ihr Faible für Liederabende machte es möglich, dass sie im Februar 1958 ihr amerikanisches Debüt bei einem Symphoniekonzert in Chicago feiern konnte. Ein gutes Jahr später engagierte man sie an der Lyric Opera of Chicago in der Rolle der Dorabella (Cosi Fan Tutte, Mozart).
Dort wurde Christa Ludwig für ein Engagement an der Metropolitan Opera entdeckt: Man besetzte sie 1959 in der Rolle des Cherubino in Le nozze di Figaro (Mozart). 

Genauso wenig wie eine Oper auf die Primadonna verzichten kann, kann sie auf die Seconda Donna verzichten.

Weltweit gefragt

Nun standen Christa Ludwig alle Türen offen: Eine Opernsängerin, die an der Met auftrat, war weltweit gefragt. In den kommenden Jahrzehnten verfolgte Christa Ludwig eine beispiellose Karriere als Mezzosopranistin – sie war gefragt in Europa, in Amerika und in Japan.
Als sie Mitte der Neunziger mit einer Rolle in der Walküre und einer weltweiten Abschiedstournee ihre Karriere beendete, umfasste die Dauer ihrer Karriere beinahe fünfzig Jahre: Für Mezzosopranistinnen ist das eine außergewöhnlich lange Karrieredauer.
Ihre Liederabende und Opernauftritte bleiben Opernkennern bis heute unvergessen: Dass sie keine Primadonna war, spielte rückblickend keine Rolle. Genauso wenig wie eine Oper auf die Primadonna verzichten kann, kann sie auf die Seconda Donna verzichten.

Opernsängerin und Liedersängerin

Ludwig lehnte es stets ab, sich auf einige wenige Opernrollen zu begrenzen: Der Musikproduzent Walter Legge empfahl ihr, sich auf vier bis fünf Partien zu begrenzen, mit denen sie sich ein Image als Primadonna aufbauen konnte. Doch Christa Ludwig hielt das für langweilig: Sie sang lieber verschiedene Rollen und glänzte in all diesen Rollen, anstatt nur für einige wenige Rollen Weltruhm zu genießen. So bleibt der Name Christa Ludwig vor allem all jenen Opernkennern ein Begriff, die Opernsänger mit einem vielfältigen Repertoire und hohen musikalischen Ansprüchen schätzen.
Oft heißt es, es gebe in der klassischen Musik den Opernsänger und den Liedersänger – beides zusammen funktioniere nicht. Doch Christa Ludwig bewies das Gegenteil: Sie war sowohl als Opernsängerin und als Liedersängerin erfolgreich. 

Simon von Ludwig


Beitragsbild: © Simon von Ludwig

Maßgebliche Quelle: Ludwig, Christa: … und ich wäre so gern Primadonna gewesen – Erinnerungen, 1994 Henschel Verlag


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