Teil eins
Es gibt zwei große spanische Opernsängerinnen des 20. Jahrhunderts: Montserrat Caballé (1933 – 2018) und Victoria de los Ángeles (1923 – 2005). Beide wurden in Barcelona geboren, doch zwischen ihnen lag ein Altersunterschied von zehn Jahren. Victoria de los Ángeles, die ältere der beiden, wurde im selben Jahr wie Maria Callas geboren und wäre 2023 ebenfalls 100 Jahre alt geworden. Bei all den Unterschieden zwischen den zwei Spanierinnen, eines teilten sich beide großen Operndiven: Ihre katalanische Herkunft.
Die junge Victoria de los Ángeles wuchs gewissermaßen in einem akademischen Umfeld auf – doch dieses Umfeld war anders, als man zunächst vermuten mag: Ihr Vater arbeitete als Hausmeister an der Universität von Barcelona. Der Gang zur Universitätsbibliothek war somit nie weit und bei der jungen Victoria de los Ángeles entwickelte sich schon früh ein Faible für die Welt der Bücher und der Kunst. De los Ángeles’ Vater muss einen bleibenden Eindruck bei den Studenten hinterlassen haben: Als die Sängerin später in ihrem Leben auf ihren Tourneen rund um die Welt reiste, kam es öfter vor, dass ein ehemaliger Student der Universität von Barcelona zu der Sängerin hinter die Bühne kam, um über ihren Vater zu sprechen.
Erfolgreiches Debut beim Radio
Schon früh entwickelte Victoria de los Ángeles ein Faible für die Kunst: Doch damals war eine musikalische Ausbildung für eine Tochter aus einfachen Verhältnissen alles andere als selbstverständlich. Ihre Eltern, die selbst musikalisch veranlagt waren, wollten ihrer Tochter aber trotzdem eine musikalische Laufbahn ermöglichen – nach dem Spanischen Bürgerkrieg (1936 – 1939) begann Victoria de los Ángeles, am Conservatori del Liceu in Barcelona zu studieren. Zu den wichtigsten Einflüssen in ihrer Zeit als Studentin des Gesangs zählen die spanische Mezzosopranistin Dolors Frau und der Gitarrist Gracià Tarragó. Ursprünglich war vorgesehen, dass die Studienzeit am Konservatorium sechs Jahre dauern würde – de los Ángeles absolvierte die Ausbildung in drei Jahren.
Neben ihren Eltern wurde die junge Sängerin von ihrer Schwester Carmen sehr dabei unterstützt, es zu einer gefeierten Sängerin zu bringen: Eines Tages erhielt die junge de los Ángeles von ihrer Schwester Carmen den Vorschlag, an einem Gesangswettbewerb von Ràdio Barcelona teilzunehmen. Dieser Schachzug sollte sich als äußerst erfolgreich herausstellen – mit den beiden Arien Sì, mi chiamano Mimì (La Bohème, Puccini) und Un bel dì vedremo (Madama Butterfly, Puccini) gewann die junge Opernsängerin die Gunst der Jury und ging siegreich aus dem Wettbewerb hervor. Dieser Wettbewerb war gleichzeitig die Geburtsstunde ihres Künstlernamens Victoria de los Ángeles: Statt ihres bürgerlichen Namens gab die junge Sängerin ihren „neuen“ Namen auf dem Anmeldebogen von Ràdio Barcelona an.
José María Lamaña
Bevor Victoria de los Ángeles auch nur annähernd ihre Ausbildung am Konservatorium abgeschlossen hatte, genoss sie bereits im lokalen Rahmen den Status einer Berühmtheit – nicht selten wurden Gewinner von Radiopreisen für verschiedene Arbeiten engagiert, diese Engagements spielten sich jedoch in den seltensten Fällen in einem Opernhaus oder einer vergleichbaren Institution ab: Nicht selten sang der Sieger eines solchen Wettbewerbs einige Male im Radio oder auf kleineren Veranstaltungen, verschwand dann aber wieder in der Bedeutungslosigkeit. Was Victoria de los Ángeles zu diesem Zeitpunkt brauchte, war eine Art „musikalischer Pate“, wie Peter Roberts in seiner Biographie über die Opernsängerin schreibt, der sich dazu bereiterklären würde, die junge Sängerin unter seine Fittiche zu nehmen und sie zu fördern. Das Schicksal wollte es, dass genau ein solcher Förderer im Publikum von einem der Semesterabschlusskonzerte von Victoria de los Ángeles saß: Der Industrieingenieur und Musikwissenschaftler José María Lamaña hatte am 14. Mai 1941 die Gelegenheit, sich bei einem Konzert einen genauen Eindruck von der Stimme der Victoria de los Ángeles zu machen. Lamaña nahm mit Dolors Frau, der Gesangslehrerin der jungen Victoria, Kontakt auf und besprach mit ihr die Situation der jungen Sängerin. Die Situation war alles andere als günstig für eine Gesangskarriere: Victorias Familie verfügte schlichtweg über keine Mittel, eine weitere Gesangsausbildung ihrer Tochter zu finanzieren und Frau merkte sogar an, sie vermute, dass die junge Sängerin viel zu wenig zu essen bekam.
Ars Musicae: „Studienjahre“
Der Ingenieur Lamaña, dessen Vater vor ihm bereits Präsident des Konservatoriums gewesen war, muss enormes Potenzial in der Stimme der jungen Victoria de los Ángeles gesehen haben: Er erklärte sich dazu bereit, die Kosten ihrer Ausbildung vollkommen zu übernehmen und arrangierte Aufnahmen mit dem von ihm initiierten Kammerensemble Ars Musicae.
Später bezeichnete Victoria de los Ángeles ihre Jahre bei Ars Musicae als ihre „wahren Studienjahre“: Die Erfahrungen, die sie als Sängerin bei diesem Kammerensemble sammelte, bildeten die Grundlage für ihre spätere Karriere als Opern- und Liedersängerin. Oftmals fanden die Konzerte des Ars Musicae im privaten Rahmen statt, was für die junge Opernsängerin die optimale Erfahrungsgrundlage darstellte. Ihr Förderer Lamaña setzte sich dafür ein, dass sein Protegée Victoria während ihrer Ausbildungszeit keine Angebote annahm, bei denen sie einfach nur Geld verdiente: Keineswegs würde er zulassen, dass Victoria ihre Stimme „verheizte“, wie manch junger Sänger es damals tat, der schnell zu Geld kommen musste.
Im Laufe der 1940er kam dem Förderer Lamaña, der in einem Vollzeitjob als Ingenieur beschäftigt war, die Aufgabe zu, das Management der Karriere seines Protegées zu übernehmen: Seine Arbeit mit ihr trug schnell Früchte – schon bald erhielt Victoria die Möglichkeit, bei einem der größten Plattenlabels der damaligen Zeit gemeinsam mit Ars Musicae eine Schallplatte einzuspielen.
Der Schlüssel: Selbstsicherheit
Ihre „Studienjahre“ bei Ars Musicae bildeten in vielerlei Hinsicht die Grundlage für ihre spätere Karriere: Anders als viele andere Sängerinnen wurde Victoria nicht ins kalte Wasser geworfen und musste sich unter unzähligen anderen Mitbewerberinnen behaupten. Sie erhielt die Möglichkeit, sich von Anfang an ein solides Repertoire und eine Sicherheit als Sängerin zu erarbeiten. Dazu sagte sie später selbst: „Als der Tag kam, an dem ich mein Operndebüt feierte, kam alles von Natur aus zu mir. (…) Ich fühlte, als ob es einfach eine Fortsetzung des Gesangs ist, den ich schon immer gemacht hatte. Damit meine ich nicht, dass ich die Oper für selbstverständlich nahm. Aber ich dachte nie, ‚Ich muss heute gewinnen. Ich muss sie für mich gewinnen.’ Das war nie meine Art, zu denken. (…) Ich hatte die Stimme und ich liebte die Musik, also war es für mich das, was es immer gewesen war – Kommunikation mit anderen. (…) Ich vermute, dass ich nicht nervös war, weil ich selbstsicher war und keine Angst hatte, mich lächerlich zu machen.“
Genau das erarbeitete sich Victoria de los Ángeles während ihrer „Studienjahre“ beim Kammerensemble Ars Musicae: Selbstsicherheit. Selbstsicherheit, die sie, vorausblickend auf die vor ihr liegende, lange und fordernde Karriere als Opernsängerin, unbedingt benötigen sollte…
Maßgebliche Quelle: Roberts, Peter: Victoria de los Ángeles, 1982 Weidenfeld and Nicolson
Beitragsbild: Victoria de los Ángeles 1963 am Flughafen Amsterdam Schiphol
Bildnachweis: Fotograaf Pot, Harry / Anefo, Nationaal Archief, CC0