Es war kein Gesangslehrer, kein Operndirektor und kein auch Familienmitglied, der das außergewöhnliche stimmliche Talent des in Sizilien geborenen Giuseppe di Stefano entdeckte: Der opernbegeisterte Jurastudent Danilo Fois gilt als der Entdecker von Giuseppe di Stefano. Als die Familie di Stefano 1937 nach Mailand umzog, begegnete der junge Giuseppe zum ersten Mal Danilo Fois – die beide wurden Freunde und Fois erkannte das enorme Potenzial, das in seinem Freund Giuseppe steckte und motivierte ihn, eine professionelle Gesangskarriere anzustreben. Die beiden spielten häufig Karten zusammen – der Gewinner einer Runde bekam nicht nur Geld, er durfte auch eine Gesangspartie vortragen. Als Fois, der eine brillante Falsettstimme besessen haben soll, einmal La donna è mobile aus Rigoletto vortrug, soll di Stefano zum Schluss mit eingestimmt haben und den letzten, äußerst hohen, Ton mit einer beeindruckenden Tenorstimme gesungen haben. Von nun an bestand kein Zweifel mehr: Wenn der Jurastudent Danilo Fois schon nicht sein gesangliches Talent professionell würden ausleben können, müsste das wenigstens sein Freund di Stefano mit seiner brillanten Tenorstimme tun… 

Luigi Montesanto

Auf Anraten von Danilo Fois nahm der junge di Stefano an verschiedenen Gesangswettbewerben teil, aus denen der junge Tenor meist sehr erfolgreich hervorging: Durch verschiedene Gesangsauftritte in Lokalen und Imbissen begegnete di Stefano schon bald Menschen, die über genug Mittel verfügten, um einen vielversprechenden jungen Sänger zu fördern: Di Stefanos Familie wäre es nicht möglich gewesen, sein Gesangstalent ausbilden zu lassen. 

Als Giuseppe di Stefano den Entschluss fasste, eine professionelle Gesangsausbildung in Angriff zu nehmen, begegnete er einer weiteren Person, deren Bekanntschaft für sein Vorankommen als Opernsänger unentbehrlich war: Der Bariton Luigi Montesanto (1887 – 1954) übernahm fortan die Gesangsausbildung des jungen di Stefano und wurde später auch sein Manager. Montesanto hatte im Laufe seiner Karriere bereits neben Enrico Caruso auf der Bühne gestanden und blickte Anfang der Vierziger auf eine internationale Karriere als Opernsänger zurück. Die Tatsache, dass Montesanto di Stefanos Lehrer war, eröffnete dem jungen Opernsänger später zahlreiche Möglichkeiten in der Opernwelt: Hätte di Stefano in seinem frühen Leben nicht zuerst den opernbegeisterten Jurastudenten Danilo Fois getroffen und später den Bariton Luigi Montesanto, hätte der Klang seiner Stimme womöglich nie die Grenzen der Stadt Mailand überquert. 
Fois hatte die Idee von di Stefanos Karriere – Montesanto setzte diese Idee um, indem er den jungen Tenor entsprechend unterrichtete. 

Gewissermaßen hatte ihm seine einmalige Tenorstimme sein Leben gerettet. 

Tätigkeit in der Schweiz

Doch bevor Giuseppe di Stefano ernsthaft seine Karriere als Opernsänger würde angehen können, machte ihm die Weltgeschichte noch einen Strich durch die Rechnung: Im Zweiten Weltkrieg wurde Giuseppe di Stefano für den Dienst in einem Infanterieregiment eingezogen. 

Auch in dieser Situation hatte der angehende Operntenor großes Glück:
Als das Regiment 1941 den Befehl erhielt, die deutschen Truppen beim Russland-Feldzug zu unterstützen, befahl ihm der Offizier, in Italien zu bleiben. „(…) Als Tenor kannst du eines Tages unserem Land nützlich sein – ja, ich bin mir dessen sicher!“, begründete der befehlshabende Offizier seine Entscheidung. Laut den Berichten kehrte niemand aus di Stefanos Regiment aus Russland zurück. Gewissermaßen hatte ihm seine einmalige Tenorstimme sein Leben gerettet. 
In den Wirren des Zweiten Weltkriegs geriet Giuseppe di Stefano in ein Internierungslager in der Schweiz: Doch auch dort machte di Stefano schon bald mit seiner Gesangsstimme auf sich aufmerksam und wurde von Edoardo Moser, dem künstlerischen Leiter von Radio Lausanne, aus dem Internierungslager herausgeholt. Beim Radio Lausanne wirkte Giuseppe di Stefano im September 1944 in insgesamt drei Opern-Gesamtaufführungen mit: Darunter waren L’elisir d’amore (Donizetti), Il Tabarro (Puccini) und La cambiale di matrimonio (Rossini). Bei allen drei Gesamtaufführungen dirigierte der Schweizer Otto Ackermann, der bereits einige Jahre zuvor dem Opernsänger Max Lichtegg bei seinem Karrierebeginn beratend zur Seite gestanden hatte. 

Debüt und Bruch mit La Scala

Nachdem der Zweite Weltkrieg vorüber war, kehrte di Stefano nach Mailand zurück: Dort stand er zunächst wieder vor existenziellen Schwierigkeiten, doch er kehrte auch zu seinem Lehrer Montesanto zurück, der sich dazu bereiterklärte, seine Ausbildung fortzusetzen und als sein Impresario zu fungieren. Nach seiner Rückkehr nach Mailand arbeitete sich Giuseppe di Stefano innerhalb kürzester Zeit an das Teatro alla Scala, das bedeutendste Opernhaus Italiens, vor: Ohne Frage eröffneten ihm die Verbindungen des Opernbaritons Luigi Montesanto unzählige Türen in der Opernwelt. Bereits Ende 1946 stand di Stefano in Kontakt mit Tullio Serafin, dem künstlerischen Leiter des Teatro alla Scala: Anfang 1947 trafen die beiden dann in der Mailänder Scala zusammen und Serafin engagierte ihn für eine Inszenierung von Manon (Massenet) im März 1947. Tullio Serafin genoss damals ein enormes Ansehen in der italienischen Opernwelt: Ein Tenor, der von ihm als großes Talent anerkannt wurde, dem standen meist die Türen zu einer Weltkarriere offen. In den folgenden Jahren erhielt di Stefano Angebote für eine weitere Karriere an der Scala, doch er entschied sich zugunsten einer internationalen Karriere. Als di Stefano im Frühjahr 1948 ein Angebot für ein Engagement an der Metropolitan Opera in New York erhielt, brach er seinen Vertrag mit der Scala zugunsten des Engagements an der Met. Für diesen Bruch mit der Scala wurde er von den Verantwortlichen dort verurteilt – doch di Stefano bevorzugte zunächst ein Intermezzo an der Metropolitan Opera. Doch der Bruch mit der Scala sollte keineswegs für immer währen: Giuseppe di Stefano wollte sich zuerst künstlerisch weiterbilden, bevor er in seine Heimat in Mailand zurückkehren würde… 

Es war kein leichtes Unterfangen für einen Opernsänger, sich neben der stimmlichen Naturgewalt der Maria Callas zu behaupten.

Erst an die Met, dann wieder zurück nach Italien

Giuseppe di Stefano trat im September 1951 an der Oper von São Paulo in La Traviata (Verdi) erstmals an der Seite von Maria Callas auf: Di Stefanos Gesangskarriere begrenzte sich nicht nur auf die Metropolitan Opera in New York, er war in den frühen Fünfzigern in Mexiko gleichermaßen gefragt wie in Rio de Janeiro. Tullio Serafin dirigierte jene Inszenierung Tito Gobbi gab den Germont père zum Besten. Wer konnte damals, im September 1951 ahnen, dass dies der Beginn eines der legendärsten Opernduos der Operngeschichte sein würde? 

Nach mehreren erfolgreichen Saisons an der Metropolitan Opera konnte Giuseppe di Stefano allmählich wieder darüber nachdenken, in seine Heimat Italien zurückzukehren. Erst nach einigen Saisons an der Met fühlte sich di Stefano in der Lage, seinen Platz dort einzunehmen – außerdem ist für jeden italienischen Opernsänger ein Erfolg an der Scala meistens weitaus bedeutender als jeder noch so lang währende Erfolg an der Metropolitan Opera. Nachdem Maria Callas von ihrem Engagement aus Mexiko zurückgekehrt war, setzte sie sich an der Mailänder Scala für ein Engagement di Stefanos ein: An der Scala erlebten beide Opernsänger in den Fünfzigern eine goldene Zeit in ihrer Karriere: Es war außerdem eine Zeit, in der man Maria Callas fast alle Saisoneröffnungen an der Scala anvertraute. Es war kein leichtes Unterfangen für einen Opernsänger, sich neben der stimmlichen Naturgewalt der Maria Callas zu behaupten – Giuseppe di Stefano meisterte es, so zum Beispiel in einer Neuproduktion von La Traviata (Teatro alla Scala, 1955) an der Seite von Maria Callas. Der anlässlich dieser Neuproduktion entstandene Rundfunkmitschnitt genießt heute Legendenstatus. Bis 1957 spielte di Stefano insgesamt zehn Operngesamtaufnahmen mit Maria Callas ein. Die stimmliche Harmonie zwischen beiden war einzigartig. 

Konzerte mit Maria Callas – Er gab ein Stück seiner Stimme

In späteren Jahren ging Giuseppe di Stefano gemeinsam mit Maria Callas auf Tournee: Die Tournee 1973/1974, die beide Sänger gemeinsam antraten und gemeinhin als „Abschiedstournee“ von Maria Callas galt, festigte den Legendenstatus beider Opernsänger nachhaltig. Auf der Bühne standen Callas und di Stefano vergleichsweise selten zusammen – von ihren über fünfhundert Opernabenden verbrachte die Callas nicht einmal fünfzig davon mit Giuseppe di Stefano auf der Bühne. Doch es war nicht die Quantität, sondern die Qualität jener Auftritte: Die Nachwelt kann dank der zahlreichen Opernaufnahmen mit beiden Sängern erahnen, welches harmonische Duo beide Sänger auf der Opernbühne gewesen sein müssen. Die Lucia di Lammermoor-Produktion unter Herbert von Karajan, die 1954 an der Scala, 1955 in Berlin und 1956 in Wien gastierte, hat ebenfalls maßgeblichen Anteil am Legendenstatus, den das Opernduo Callas-di Stefano genießt. 

Es heißt häufig, di Stefano sei „verschwenderisch“ mit seiner Stimme umgegangen und seine brillante Tenorstimme mit enormem Potenzial sei schnell „verglüht“. Tatsächlich beanspruchte er seine Stimme in den frühen Fünfzigern enorm und wandte unorthodoxe Gesangstechniken an, doch eines steht außer Frage: Giuseppe di Stefano sang sein ganzes Leben im Dienste der Oper. Für die Oper gab er im Laufe seiner Karriere ein Stück seiner Stimme. 

Simon von Ludwig


Beitragsbild: Giuseppe di Stefano (r.) 1973 mit Maria Callas am Flughafen Amsterdam Schiphol, Fotograaf Onbekend / Anefo, Nationaal Archief, CC0

Maßgebliche Quelle: Semrau, Thomas: Alles oder nichts. Giuseppe di Stefano, 2002 Residenz Verlag Wien


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