2023 wäre die einmalige Maria Callas einhundert Jahre alt geworden: Bis heute tun sich Musikwissenschaftler, Opernkritiker und Fans gleichermaßen schwer, ihr musikalisches Vermächtnis einzuordnen und die Wirkung ihrer Stimme in Worte zu fassen.
War sie diejenige, die es schaffte, das Genre der Oper in die Welt der Moderne bringen?
Hätte es Maria Callas nicht gegeben, gäbe es dann überhaupt noch das Genre der Oper in seiner heutigen Form?
Wenn es Maria Callas nicht gegeben hätte, wäre dann einer anderen Opernsängerin die besondere Ehre zugekommen, der Oper neues Leben einzuhauchen?
So viele Fragen, zu denen sich nur schwer Antworten finden lassen. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass über Maria Callas unzählige Mythen und Erfindungen im Umlauf sind, die es bis in anerkannte biographische Werke geschafft haben.
Fest steht nur eines: Es gibt unzählige Opern, die weltweit von den Spielplänen verschwunden wären, wenn Callas nicht durch ihre Interpretationen von Bellinis Norma oder Cherubinis Medea den jeweiligen Opern neuen Glanz verliehen hätte, um nur einige zu nennen.
Der Komponist steht an erster Stelle
Konnte die Gesellschaft in den Fünfzigern und Sechzigern, in jenen Jahrzehnten, als die Callas ihre größten Erfolge feierte, überhaupt die einmalige Kunst der Primadonna einschätzen?
Vielleicht nicht.
Arnold Jacobshagen legt in seiner 2023 erschienenen Callas-Biographie sogar nahe, dass „ihre Kunst besser in unsere Gegenwart zu passen [scheint] als in die Wirtschaftswunderwelt der fünfziger Jahre.“ (Jacobshagen 2023, S. 9). Obwohl die Callas heute wie damals von vielen Menschen bewundert wird: Die Primadonna des 20. Jahrhunderts war in vielerlei Hinsicht ein Kind ihrer Zeit. Nur unter den damaligen Umständen war es möglich, dass eine Primadonna wie Maria Callas ihren Weg auf die Opernbühne fand. Eines wusste die Callas: Als Primadonna wird man nicht geboren, man wird es auch nicht über Nacht. Hinter der erfolgreichen Karriere der Callas steckte vor allem eines: Künstlerische Arbeit auf höchstem Niveau. Die meiste Zeit ihres professionellen Lebens war Maria Callas nicht damit beschäftigt, Primadonna oder Diva zu sein – sie war damit beschäftigt, jene Form der Diva zu sein, die sich beispielsweise Bellini in seiner Oper Norma ausgedacht hatte: Für die Callas stand der Komponist und sein Werk an erster Stelle. Jede einzelne Stelle der Partitur war genauestens zu beachten – Abweichungen davon oder eigene Interpretationen waren in den Augen der Callas vollkommen fehl am Platz. Maria Callas war eine Diva im Sinne des jeweiligen Komponisten.
Elvira de Hidalgo
Dass Maria Callas die Möglichkeit bekam, ihr künstlerisches Talent auszuleben, ist in erster Hinsicht ihrer Mutter zu verdanken: Obwohl Maria Callas später selbst keineswegs ihre familiäre Herkunft verklärte, war es doch ihre Mutter, die schon früh Potenzial in ihrer Tochter erkannte. Das mag nicht zuletzt mit dem Statusbewusstsein ihrer Mutter zusammengehangen haben: Die Familie von Maria Callas stammte zwar keineswegs aus äußerst vermögenden Verhältnissen, doch ihre Herkunft war – entgegen zahlreicher hartnäckiger Behauptungen – keineswegs „unvermögend“. Zum damaligen Statusbewusstsein gehörte insbesondere dazu, das musikalische Talent des Nachwuchses zu erkennen und ausbilden zu lassen – genau das leitete Maria Callas’ Mutter in die Wege. Die junge Maria Callas stürzte sich in ihrer griechischen Heimat wie keine andere Studentin auf ihre Musikstudien: Wenn sie selbst gerade keinen Unterricht nahm, schaute sie anderen Schülern beim Unterricht zu und saugte so alles auf, was es am Konservatorium zu lernen gab.
Eine Gesangslehrerin übte einen ganz besonderen Einfluss auf die junge Maria Callas aus: Elvira de Hidalgo, die einst selbst eine weltberühmte Koloratursopranistin gewesen war. Bei Elvira de Hidalgo lernte Maria Callas, die Technik des Belcanto perfekt zu beherrschen – außerdem war de Hidalgo als Beraterin der Athener Nationaloper tätig, wodurch es ihr möglich war, ihrer jungen Schülerin Perspektiven für ihre Karriere als Opernsängerin zu bieten. Mit nicht einmal zwanzig Jahren stand Maria Callas bereits achtzehnmal als Tosca auf der Bühne – eine solche Errungenschaft konnte zur damaligen Zeit keine junge griechische Opernsängerin vorweisen…
Ein Griechenland ohne Opernkultur
Bis heute wird der professionelle Karrierebeginn der Maria Callas mit ihrem Debüt an der Arena di Verona im Sommer 1947 angegeben: In Wahrheit genoss die Callas aber schon viele Jahre zuvor in ihrer Heimat Griechenland großen Ruhm als Opernsängerin. Der Karrierebeginn der Maria Callas lässt sich nicht nach heutigen Maßstäben beurteilen: Damals war es üblich, dass Opernsängerinnen bereits in extrem jungen Jahren auf der Bühne standen. Arnold Jacobshagen geht in seiner Callas-Biographie auf das Beispiel der Opernsopranistin Maria Malibran (1808 – 1836) ein, die bereits im Alter von 15 Jahren auf der Bühne des Londoner King’s Theatre stand. Malibran soll eines der großen Idole der Callas gewesen sein. Neben der musikalischen Förderung durch ihre Mutter kam ein weiterer, ganz entscheidender Faktor hinzu beim Karrierebeginn der jungen Maria Kalogeropoulou…
Der künstlerische Aufstieg der jungen Opernsängerin fiel in die Zeit der Besatzung Griechenlands durch Deutschland: Damals wurde gerade zum ersten Mal eine professionelle Opernkultur in Griechenland aufgebaut.
Ihre Karriere begann in Griechenland, nicht in Italien
„Um ehrlich zu sein: Die Athener Oper hat eigentlich nur ein einziges Mal wirklich funktioniert – und zwar unter der deutschen Besatzungsmacht.“ (Jacobshagen 2023, S. 53), sollte Maria Callas später rückblickend sagen.
Ende der Dreißiger hatte es eine Opernkultur in Griechenland noch nicht gegeben, erst Anfang der Vierziger begann man sich in Griechenland für das Genre der Oper zu interessieren. Das mag unter anderem mit den Anordnungen des deutschen Militärbefehlshabers Wilhelm Speidel zusammengehangen haben, der eine glühende Leidenschaft für die Musik besaß.
Die Nationaloper in Athen war hauptsächlich auf „Opernimporte“ von der Besatzungsmacht angewiesen – so wurde die neue Nationaloper in Athen am 5. März 1940 mit einer Inszenierung von Die Fledermaus (Johann Strauß) eröffnet. Um das Leben und die Karriere der Maria Callas zu verstehen, muss man wissen, dass ihre Karriere nicht – wie häufig angenommen – in Italien begann, sondern in Griechenland. Als die Callas nach Italien ging, war sie bereits eine nationale Berühmtheit in Griechenland – entscheidend gefördert durch die deutsche Besatzungsmacht.
Die Entdeckung der Maria Callas
Der deutsche Journalist und Opernkritiker Friedrich W. Herzog war im besetzten Griechenland für die Deutschen Nachrichten in Griechenland tätig und schrieb in der Presse nicht selten äußerst positive Worte über das Talent der jungen Maria Kalogeropoulou, wie sie sich damals noch nannte: „Was andere Sängerinnen erlernen müssen, besitzt sie von Natur.“, so einer seiner Sätze über Maria Callas (Jacobshagen 2023, S. 49, Zitat stammt aus Koussouris 2002, S. 65).
Laut Herzog soll Maria Callas bei ihren eigenen Landsleuten kaum Unterstützung gehabt haben – als der Zweite Weltkrieg vorüber war, lüftete der Journalist das Geheimnis rund um die genauen Umstände der Entdeckung von Maria Callas: „Da Maria von Seiten ihrer Landsleute kaum Unterstützung zu erwarten hatte – sie wurde stets als Eindringling behandelt (…) –, haben sich immer wieder deutsche Stellen, vor allem die PK-Angehörigen [Angehörige der Propagandakompanie der Wehrmacht], für Maria Kalogeropoulou eingesetzt. Der Erfolg solcher Bemühungen blieb nicht aus.“ (Jacobshagen 2023, S. 50, Zitat stammt aus einem Text von Herzog 1959, S. 11)
Herzog veröffentlichte diese Worte Ende der Fünfziger: Die Callas war inzwischen ein weltbekanntes Phänomen. Der Musikkritiker behielt mit seiner Äußerung recht: Jene Bemühungen, sich für den Erfolg der Callas einzusetzen, trugen Früchte. Doch sie trugen nicht nur Früchte für Maria Callas selbst: Ohne die Figur der Maria Callas würde das Operngenre kaum die heutige Bedeutung genießen. Es ist zu bezweifeln, dass sich ohne die bahnbrechenden und Maßstäbe definierenden Darbietungen der Callas überhaupt noch jemand – außer vielleicht Musikwissenschaftlern – an manche große Opern des Belcanto-Stils erinnern würde. Maria Callas brachte die Oper in die Moderne.
Maßgebliche Quelle: Jacobshagen, Arnold: Maria Callas. Kunst und Mythos, 2023 Philipp Reclam jun.
Alle Zitate stammen aus o.g. Werk.
Beitragsbild: Maria Callas 1973 am Flughafen Amsterdam Schiphol
Bildnachweis: Fotograaf Onbekend / Anefo, Nationaal Archief, CC0