Fortsetzung von Teil eins

Birgit Nilssons Zeit an der Metropolitan Opera in New York prägte sie so stark, dass sie dem in Österreich geborenen Operndirektor der Met, Rudolf Bing, in ihren Memoiren ein eigenes Kapitel widmete. Besonders erinnerte sich Nilsson an eine Situation, in der die Verantwortlichen darum rangen, ob es an der Met eine Neuinszenierung der Oper Der Ring des Nibelungen (R. Wagner) mit Herbert von Karajan als Dirigent geben sollte.
Nilsson zögerte, ob sie in der Rolle der Brünnhilde in der Produktion mitwirken würde. Sie hatte bereits mit Herbert von Karajan einige Erfahrungen gemacht und war nicht sicher, ob sie erneut mit ihm zusammenarbeiten wollte – unabhängig davon sollte Nilsson jedoch in ihrer Karriere noch einige Male mit dem legendären Dirigenten zusammenarbeiten.
Der Direktor Rudolf Bing machte es von Nilssons Entscheidung abhängig, ob er Karajan mit dem Ring überhaupt an die Met holen würde – Nilsson führte sich vor Augen, dass die Met damals seit Ewigkeiten keine Inszenierung vom Ring des Nibelungen mehr realisiert hatte und ließ sich auf das Angebot ein. Schließlich wollte sie nicht diejenige sein, die der Neuinszenierung eines ikonischen Stückes im Wege stand. 
Nilsson behielt Rudolf Bing als einen der fähigsten Operndirektoren überhaupt in Erinnerung. Der gebürtige Österreicher soll es in den Augen Nilssons wie kein anderer verstanden haben, ein Opernhaus zu führen.

Wer als Sänger keine Nervosität vor einer Operndarbietung mehr spürte, der konnte es auch gleich ganz sein lassen.

„Wundermedikament“? Nein danke!

Eines Tages traf Birgit Nilsson einen Arzt, der ihr ein Medikament verschreiben wollte, das Gefühle der Nervosität vor einer Operndarbietung unterdrückte, um sich vollständig auf den künstlerischen Aspekt der Vorstellung konzentrieren zu können.
Lampenfieber und Phasen der Unkonzentration während einer Operndarbietung waren keine Seltenheit – sind diese Nebeneffekte der Arbeit auf der Bühne tatsächlich eine Last oder gehören diese Aspekte einfach zur Bühnenarbeit dazu? Birgit Nilsson war sich zu einhundert Prozent sicher: Wer als Sänger keine Nervosität vor einer Operndarbietung mehr spürte, der konnte es auch gleich ganz sein lassen.
Nilsson warf das Rezept für das „Wundermedikament“ laut den Ausführungen in ihren Memoiren in den nächstbesten Mülleimer. Folglich gehörte für Nilsson die Nervosität, die Ungewissheit, ob man Erfolg haben würde, als ein integraler Bestandteil ihrer Arbeit als Opernsopranistin zu jeder Operndarbietung dazu. Auf eine Opernbühne zu gehen ohne Nervosität, das wäre in etwa so, als würde man fechten, ohne jedoch einen Degen dafür verwenden zu wollen.
Birgit Nilsson war Opernsängerin mit Leib und Seele: Das wollte sie auf der Bühne mit jeder Faser ihres Körpers spüren. 

Das „Mekka der Musik“

Für Birgit Nilsson war Wien „Die Stadt ihrer Träume“: In keiner Stadt der Welt stand Birgit Nilsson lieber auf einer Opernbühne, auch wenn ihr die persönlichen Eigenheiten von manchem Dirigenten – wie zum Beispiel jene Eigenheiten des legendären Dirigenten Herbert von Karajan – zu schaffen machten. Aber vielleicht waren es genau jene Eigenheiten und Besonderheiten, die Wien für Birgit Nilsson zu dem besonderen Ort machten, der er in ihren Augen war?
Ihre Interpretationen von Wagner-Rollen blieben dem Wiener Publikum und den Wiener Kritikern in äußerst positiver Erinnerung – die Opernrollen sang Nilsson selbstverständlich stets in ihren Originalsprachen. Ein Interview mit dem Musikhistoriker Erich Schenk von 1967 in der Österreichischen Mediathek zeigt, dass Birgit Nilsson insbesondere die deutsche Sprache fließend beherrschte: Das machte ihre Interpretationen der Wagner-Titelheldinnen, live wie auf der Schallplatte, zu einem einmaligen Erlebnis.
Doch nicht nur in Wien interpretierte Birgit Nilsson die Werke Richard Wagners: Bereits sehr früh in ihrer Karriere interessierte sich das Festspielhaus in Bayreuth, das unter Opernsängern bis heute gemeinhin als „Mekka der Musik“ gilt, für die schwedische Opernsopranistin. Ohne Frage war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine schwierige Zeit für Bayreuth: Nicht nur musste man sich Vorwürfen stellen, man habe im Dritten Reich mit dem Regime kollaboriert, der Wagner-Clan musste den Spagat zwischen der Bewahrung von Wagners Werken und den Anforderungen der modernen Opernwelt meistern. Dass das Bayreuther Festspielhaus im Zweiten Weltkrieg von dem Bombenangriffen auf wundersame Art und Weise verschont wurde, war einer der wenigen glücklichen Umstände. 

Birgit Nilsson 1974 bei einem Konzert in einer Kirche. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Birgit Nilsson-Museums.

Bayreuth und Buenos Aires

Mit ihrer Interpretation von zahlreichen Wagner-Titelrollen wurde Birgit Nilsson ein Teil der Geschichte der Festspiele von Bayreuth nach dem Zweiten Weltkrieg: Zwischen 1957 und 1970 war Nilsson regelmäßig bei den Festspielen von Bayreuth als Sängerin verpflichtet.
Ihre Wagner-Interpretationen trug Birgit Nilsson bis nach Südamerika: 1955 feierte die Opernsängerin ihr Debüt im Teatro Colón in Buenos Aires als Isolde aus Tristan und Isolde (Wagner).
1958 folgte ein weiterer Höhepunkt in der Karriere Birgit Nilssons: Sie feierte ihr Debüt am legendären italienischen Opernhaus La Scala in Mailand als Brünnhilde und eröffnete mit der Turandot (Puccini) die Opernsaison an der Scala. Nilsson war überrascht davon, wie schwierig es war, das italienische Opernpublikum zu begeistern: In einem italienischen Opernhaus konnte es vorkommen, dass eine Sängerin in einem Akt ausgebuht wurde und man ihr im nächsten Akt den größten Applaus ihrer Karriere spendierte. Trotzdem verliebte sich Birgit Nilsson in die italienische Lebenseinstellung, das Essen und die Kultur – ob in New York, Wien oder in Milano: Birgit Nilsson war überall willkommen und fühlte sich beinahe wie zuhause.

Das Aufnahmestudio

Birgit Nilsson hinterließ nicht nur ein großes Vermächtnis als Sopranistin auf einer Opernbühne: Die zahlreichen Schallplattenaufnahmen, die Birgit Nilsson im Laufe der Jahrzehnte realisierte, sind der Grund, weshalb die schwedische Sopranistin bis heute in Erinnerung geblieben ist und als eine der versiertesten Wagner-Interpretinnen ihrer Generation gilt.
Nilsson stand im Frühling 1947 zum ersten Mal in ihrem Leben vor einem Mikrofon: In ihren Memoiren beschreibt Birgit Nilsson, es gebe Opernsänger, die wie gemacht seien für das Mikrofon. Doch zu dieser Kategorie Sängerinnen gehörte sie selbst ihrer Ansicht nach nicht: Sie musste sich immer aufs Neue an das Aufnahmestudio anpassen, da es äußerst schwierig sein kann, in einem Studio die Emotionen zu transportieren, die man als Opernsängerin sonst nur auf der Bühne während des Schauspiels spürt und zum Publikum transportiert. Trotzdem meisterte es Nilsson im Laufe ihrer Karriere unzählige Male, in Opernaufnahmen zu brillieren.
Bis Mitte der Siebziger feierte Birgit Nilsson regelmäßig Debüts in Opernrollen, die sie vorher noch nicht interpretiert hatte: Sie erweiterte ihr Rollenrepertoire ständig. 1976 feierte Nilsson ihr dreißigjähriges Bühnenjubiläum – für eine Opernsopranistin, die häufig stimmlich sehr anspruchsvolle Rollen wie jene aus den Wagner-Opern interpretierte, war ein solches Jubiläum alles andere als selbstverständlich. 

Der Birgit Nilsson-Preis ist der höchstdotierte Musikpreis in der Welt der Klassischen Musik.

Das „Geschenk aus dem Himmel“

In ihren späten Jahren sah sich Birgit Nilsson dazu verpflichtet, ihr Wissen an junge Sänger weiterzugeben: Von 1983 bis 1993 gab sie zehn Jahre lang Master Classes an der Manhattan School of Music in New York City.
Abgesehen von ihrem Wissen und ihrem Vermächtnis als Sopranistin hinterließ Birgit Nilsson der Nachwelt einen weiteren großen Schatz: Seit ihrem Tod wird in regelmäßigen Abständen an bedeutende Sänger, Dirigenten und Institutionen, die auf dem Gebiet der Liedkunst (Oper, Konzert, Oratorium, Lied) Großartiges geleistet haben, der Birgit Nilsson-Preis vergeben. Der Birgit Nilsson-Preis ist der höchstdotierte Musikpreis in der Welt der Klassischen Musik.
1984 war Birgit Nilsson im Rahmen einer Konzerttournee durch Deutschland bei ihren letzten öffentlichen Auftritten zu sehen: Es war das Finale einer großen Karriere als Sopranistin.
Angefangen hatte alles, als die „singende Farmerstochter“ beschlossen hatte, dass die Musik ihr Leben sein würde: Nilsson bewies nicht nur sich selbst und nicht nur ihren Eltern, sondern einer breiten Öffentlichkeit, dass die eigene Herkunft keine Rolle dabei spielt, zu welchen künstlerischen Höchstleistungen man in der Lage ist.
Trotzdem: Wäre nicht das „Geschenk aus dem Himmel“, wie Nilsson es bezeichnete, in Form von wohlhabenden Durchreisenden, die in der Nähe der Stockholmer Musikakademie eine Villa besaßen, eines Tages auf die elterliche Farm gekommen, hätte es Birgit Nilsson vermutlich in dieser Form nie gegeben.

Simon von Ludwig


Maßgebliche Quelle: Nilsson, Birgit: La Nilsson – My Life in Opera, 2018 VfmK Vienna

Beitragsbild: Birgit Nilsson 1967 bei einem Konzert in Schweden. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Birgit Nilsson-Museums. 
Der Bussard dankt dem Birgit Nilsson-Museum für seine Unterstützung.


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