„Leonard Bernstein, Sir Georg Solti, Herbert von Karajan und Seiji Ozawa sitzen beisammen und diskutieren, wer von ihnen der größte Dirigent sei. Ozawa argumentiert, er habe nicht nur die Bostoner, also ein hervorragendes Orchester, sondern er sei in Japan so etwas wie eine Trademark. Nikon, Honda, Ozawa – das liege in der Popularität wohl gleichauf. Solti erwidert, er sei für seine musikalischen Verdienste sogar geadelt worden, und er dirigiere in Chicago das beste Orchester der Welt, wie Stravinsky einmal behauptet hat. Bernstein lächelt siegesgewiss: Er sei als Dirigent und Komponist gleich bedeutend. Und zur Komposition seiner Messe habe ihn sogar der liebe Gott persönlich aufgefordert. Daraufhin mustert ihn Karajan und entgegnet scharf: ‚Das habe ich nicht getan!!‘“

Dieser Witz beschreibt den musikalischen Status, den Karajan jahrzehntelang in der Musikwelt genoss: Wenn auch Karajan gegen eine solche Stilisierung seiner selbst war, so trägt die Behauptung, die Karajan als „musikalischen Gott“ stilisiert, ein Fünkchen Wahrheit in sich.

Am 22. Oktober 1938 hieß es in einer Musikkritik der B.Z. am Mittag:

„Nicht möglich, Herbert von Karajan in geläufige Begriffe einzuordnen. Er ist weder Rhythmiker noch auf Klang spezialisiert, weder typischer Operndirigent noch Symphoniker. Er ist alles in einem. (…)“ 

Diese Kritik stand unter dem Titel: „Das Wunder Karajan“.
Diese Formulierung verärgerte den Dirigenten, wie er fast vierzig Jahre danach 1977 bekundete:

„Ach was! Ich war überhaupt kein Wunder! Diese Kritik hat mich damals in entsetzliche Schwierigkeiten gebracht und eigentlich nur aufgehalten.“

Jener Kritik voran ging sein Engagement an der Berliner Staatsoper: Heinz Tietjen, Generalintendant des preußischen Staatstheaters, zögerte zunächst, den dreißigjährigen Karajan zu engagieren. Nachdem Tietjen seine erste Probe mit Karajan am Dirigentenpult hörte, sagte er zu ihm: „Sie sind also der große Meteor…“

Die Familie von Karajan

In einem Interview sagte von Karajan, er habe nichts aus seiner großbürgerlichen Abstammung gemacht: Seine Familie emigrierte 1767 aus Mazedonien zunächst nach Wien und dann nach Chemnitz. Dort baute sein Ururgroßvater mit seinem Bruder eine Textilfirma auf: Aufgrund des großen Erfolgs wurden beide 1792 in den erblichen deutschen Reichsadelsstand erhoben.
Karajans Urgroßvater wurde 1869 in den erblichen österreichischen Ritterstand erhoben. Dieser Titel verfiel jedoch 1919, als der österreichische Adel abgeschafft wurde: Somit verblieb der Namenszusatz von aus der deutschen Nobilitierung, auf dessen Nennung von Karajan stets großen Wert legte.
Trotz dieses Hintergrunds, der mit Musik recht wenig zu tun hatte, konnte Karajan nur die Musik ergreifen, wie er es selbst einmal formulierte.

Studium der Technik

Trotzdem studierte Karajan zunächst dreieinhalb Semester Technik – während dieses Studiums bestätigte sich jedoch, dass es ihn mehr zum Dirigieren als zur Technik zog.
Nichtsdestotrotz blieb von Karajan zeitlebens technikbegeistert: Er interessierte sich für Flugzeuge und insbesondere für Automobile. Nicht umsonst gab es die berühmten von-Karajan-Rennwägen, mit denen der Dirigent in seiner Freizeit der zweiten großen Leidenschaft seines Lebens nachging.

Jüngster Generalmusikdirektor Deutschlands

1935 wurde Herbert von Karajan mit 27 Jahren in Aachen zum jüngsten Generalmusikdirektor Deutschlands ernannt.
Bis 1945 folgte eine Zeit, während der Karajan an verschiedenen Musikhäusern in Deutschland und Österreich dirigierte.
Ab 1939 dirigierte Karajan die Berliner Staatsoper: Aufgrund eines Konflikts mit dem Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler, dirigierte Karajan vor 1953 sehr selten die Philharmoniker.
Stattdessen führte er in den Jahren des Zweiten Weltkriegs unter dem Namen Preußische Staatskapelle mit dem Opernorchester Konzerte auf.

Der Generalmusikdirektor von Europa

Als Wilhelm Furtwängler, großes Vorbild Karajans und zugleich sein größter Konkurrent, 1954 starb, eröffneten sich für Herbert von Karajan neue Möglichkeiten: Am 25. April 1956 unterschrieb Karajan einen Vertrag mit den Berliner Philharmonikern: Er war als Furtwänglers Nachfolger auserkoren worden – und das lebenslang.
Doch es war nicht das einzige Engagement, das Karajan angeboten bekam: Er wurde fast zur gleichen Zeit zum Künstlerischen Leiter der Salzburger Festspiele und zum Künstlerischen Leiter der Wiener Staatsoper ernannt. Hinzu kam ein Vertrag mit der Mailänder Scala.

Anstoß zum Vertrag mit der Scala gab ein Gastspiel des Mailänder Opernhauses in Wien mit einer Inszenierung von Lucia di Lammermoor (Gaetano Donizetti) am 12. Juni 1956: Die Hauptrolle übernahm Maria Callas
Herbert von Karajans Beschäftigungen in ganz Europa führten dazu, dass man ihn den „Generalmusikdirektor von Europa“ taufte.
Rückblickend auf diese Zeit sagte von Karajan später in einem Interview:

„Wo liegen die wesentlichen Werte? Sehen Sie, ich bin damals darauf gekommen, dass es nicht darauf ankommt, in wie viel Städten mit wie viel verschiedenen Orchestern man dirigiert, sondern was dabei für einen selbst herauskommt. Es geht dabei auch um die Konvertierung meiner eigenen Person. Wichtig ist auch, dass mir die innere Vorbereitung viel wesentlicher geworden ist als die tatsächliche Ausführung, mit noch so verschiedenen Orchestern.
Ich hab’ einmal gesagt, ich hab’ eine mohammedanische Seele, ich kann’s mit fünf Frauen. Aber heute würde ich sagen, es geht doch nicht.“

Erblickt man von Karajan auf einer der zahlreichen Aufnahmen, bei denen er am Dirigentenpult steht, fällt sofort auf: Er dirigierte ohne Partitur und meist mit geschlossenen Augen. Hierzu sagte Karajan in einem Interview von 1977:

„Ich schalte mich als Interpreten vollkommen ab. Ich bin das Gehör, das die Fehler erkennt und sie korrigiert [sic] (…) Man kommt zu einer anderen Verinnerlichung, wenn man die Augen zu macht. Ich sehe nicht, wie sich einer den Schweiß von der Stirn wischt oder sich die Nase kratzt, sondern ich höre nur die Musik.“

Simon von Ludwig


Maßgebliche Quellen: Ein Interview mit von Karajan auf YouTube (alle Zitate bis auf das letzte stammen hieraus), das Buch „‚Ich war kein Wunder!’/Herbert von Karajan – Legende und Wirklichkeit“ von Karl Löbl, 2014 Seifert Verlag (u.a. der Witz zu Beginn des Artikels stammt hieraus) und ein weiteres Interview mit von Karajan auf YouTube von 1977 (das letzte Zitat stammt hieraus).

Beitragsbild: Herbert von Karajan, ca. 1975
Bildnachweis: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_LC0027-001 / CC BY-SA 4.0


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