An jenem Oktoberabend 1949, als der Boxweltmeister Marcel Cerdan, Edith Piafs Liebhaber, ums Leben kam, sollte Piaf im New Yorker Nachtclub Versailles auftreten. Marlene Dietrich, eine enge Freundin Piafs, war an diesem Oktoberabend bei Piaf und rechnete damit, dass sie ihren Auftritt absagen würde. Trotz ihrer tiefen Trauer tat sie genau das Gegenteil: Piaf beschloss, ihren Auftritt zu absolvieren. Marlene Dietrich wollte zumindest bewirken, dass Piaf das Chanson Hymne à l’amour an diesem Abend weglassen würde: Die Passage « Si tu meurs, je mourrai aussi » (zu deutsch: „Wenn Du stirbst, sterbe ich auch“) schien vor dem Hintergrund der neuesten Ereignisse unpassend.
Doch getreu dem Motto „The Show Must Go On“ sang Piaf an diesem Abend auch Hymne à l’amour.
Ohne einen einzigen Vers auszulassen.
An jenem Oktoberabend soll Piaf laut Marlene Dietrich einen der eindrücklichsten Auftritte ihrer gesamten Karriere absolviert haben: Wie kaum eine andere Chansonsängerin verstand es Piaf, persönlichen Schmerz in ihren Chansons zu verarbeiten. Doch obwohl ihre Gefühlswelt für ihre Kunst solch eine große Rolle spielte, ordnete sie ihre persönlichen Gefühle – wie an jenem Oktoberabend 1949 in New York – dem Showbusiness unter. 

Während ihr Vater auf Tournee mit dem Zirkus war, war seine Tochter Edith auf Tournee mit dem Wahnsinn.

Der Zirkus und der Wahnsinn

Édith Giovanna Gassion stammte aus einer Familie von Zirkusreisenden und Akrobaten: Teile ihrer Familie stammten aus dem arabischen Raum. Piaf wurde 1915 in ärmlichen Verhältnissen im Pariser Künstlerviertel Belleville geboren: In ihrer Kindheit und Jugend gab es kaum jemanden, der Piaf Halt vermitteln konnte. Im Alter von sieben Jahren nahm ihr Vater, der in einem Wanderzirkus arbeitete, Piaf zum ersten Mal mit auf Tournee. Während ihr Vater auf Tournee mit dem Zirkus war, war seine Tochter Edith auf Tournee mit dem Wahnsinn: Später betonte sie immer wieder, so etwas wie eine Kindheit oder Jugend habe sie nie gehabt.
Bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr führte Edith Piaf ein Leben, wie es für jemanden ihrer Herkunft damals typisch war: Sie war ständig unterwegs, trat in die Fußstapfen ihrer Familie, die fast allesamt beim Zirkus arbeiteten, und versuchte, über die Runden zu kommen. 

Louis Leplée

Edith Piafs Leben änderte sich erst, als sie 1935 den Pariser Nachtclubbesitzer Louis Leplée traf: Piaf betonte später immer wieder, ihr Ruhm sei einzig und allein Leplée zu verdanken. Louis Leplée engagierte die junge Edith Piaf für das in der Nähe der Champs-Élysées gelegene Nachtlokal Le Gerny. Das war ein wahrer Aufstieg für die junge Sängerin: Sie spielte fortan nicht mehr im anrüchigen Milieu von Belleville, sondern im Zentrum von Paris, wo nicht selten einflussreiche Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur verkehrten. 

Während ihrer Zeit am Le Gerny erhielt Piaf den Spitznamen Môme Piaf (zu deutsch etwa: „Kleiner Spatz“). Louis Leplée kam auf diesen Spitznamen, als er händeringend nach einem Künstlernamen für seine neueste Entdeckung suchte. Schon bald nannte sich die junge Sängerin nicht mehr Môme Piaf, sondern Edith Piaf – damit schuf Leplée nicht nur die Grundlage für Piafs Karriere, er kreierte auch den Namen, unter dem die Chansonnière weltbekannt wurde.
Aus ihrer Zeit am Le Gerny stammt ebenfalls ihre Angewohnheit, in einer schwarzen Robe auf die Bühne zu treten. 

Erster Skandal

Eines Abends saß der Schauspieler und Chansonsänger Maurice Chevalier im Publikum, der zu dieser Zeit bereits einen Namen in der Pariser Kulturwelt hatte. Chevalier war von der Bühnenpräsenz der Piaf beeindruckt und unterstützte sie fortan in ihrem Vorhaben, es eines Tages zu einer berühmten Chansonsängerin zu bringen.
Im Oktober 1935 stand Edith Piaf zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Aufnahmestudio: Piafs erste Schallplatte Le Mômes de la cloche erschien am 18. Dezember 1935.
Ihre Beziehung zu ihrem Impresario Louis Leplée war nicht von langer Dauer: Im April 1936 wurde ihr Impresario in seiner Wohnung ermordet. Die Causa Leplée avancierte zum ersten Skandal in Piafs Leben, wegen ihrer Verbindung mit dem Nachtclubbesitzer geriet sie in den Fokus der Ermittlungen. Es war das erste Mal, dass der Name Piaf die Schlagzeilen der Boulevardblätter zierte – es sollte nicht das letzte Mal bleiben. 

Selbst demjenigen, der sich nicht für das französische Chanson interessiert, ist La vie en rose meist ein Begriff.

Piaf-Chansons

Obwohl Edith Piaf sich häufig von einem Orchester begleiten ließ, brauchte das ihre Stimme nicht unbedingt: Vor allem jene Piaf-Chansons, die nicht groß orchestriert sind, lassen den wahren Ausdruck ihrer Stimme zum Vorschein kommen. Nicht selten gleichen Piaf-Chansons einem Walzer, der mit einem dramatischen Finale schließt.
Piaf schuf Zeit ihres Lebens nur insofern Musik, dass sie Chansons interpretierte – das Texten und Komponieren der Musik überließ sie meist anderen. Vielmehr war sie eine Kuratorin von Musik: Sie wählte selbst aus, was sie am besten interpretieren konnte. Bis heute wird Piaf nachgesagt, wie kein anderer Künstler genau gewusst zu haben, welche jungen Schreibtalente ihr ein Chanson auf den Leib dichten konnten.
Eine Ausnahme bildete das Chanson La vie en rose, zu dem Piaf den Text selbst schrieb: La vie en rose ist ohne Frage die Ikone schlechthin unter den Piaf-Chansons und wurde bis heute hundertfach gecovert. Selbst demjenigen, der sich nicht für das französische Chanson interessiert, ist La vie en rose meist ein Begriff.

Das Mysterium Piaf

Betrachtet man das Leben der Piaf, so tun sich zahlreiche Mythen und Mysterien auf: Beginnend mit ihrer Geburt, deren Umstände bis heute nicht ganz geklärt sind, ranken sich um das Privatleben der Sängerin schier unendlich viele Legenden. Doch sieht man sich das Werk der Piaf an, erscheint das Privatleben geradezu nichtig im Vergleich zu ihrer künstlerischen Leistung. Trotz ihrer nicht unbedingt glücklichen Kindheit und Jugendzeit soll Edith Piaf kein trauriger Mensch gewesen sein: Zeitgenossen erinnern sich an ihr sonores Lachen.
Als sie mit dem Tod von Leplée ihren Impresario verlor, wusste Piaf zunächst nicht weiter: Wer würde nun ihre Karriere voranbringen, wer würde ihr den nötigen kreativen Freiraum geben, um ihre Vorstellung vom Chansonsingen umzusetzen?

Simon von Ludwig

Teil zwei.


Maßgebliche Quellen:

  • Salié, Olaf: Chanson: Leidenschaft, Melancholie und Lebensfreude aus Frankreich, 2021 Prestel Verlag
  • Bensoussan, Albert: Edith Piaf, 2013 Éditions Gallimard
  • Dietrich, Marlene: Ich bin Gott sei Dank Berlinerin, 1987 Ullstein Verlag

Beitragsbild: Edith Piaf 1962 in Rotterdam
Bildnachweis: Fotograaf Koch, Eric / Anefo, Nationaal Archief, CC0


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