Fortsetzung von Teil eins

Für Edith Piaf schien es so etwas wie eine aussichtslose Situation nicht zu geben: Nach dem Tod von Lepplée wurde sie von dem Lieddichter Raymond Asso entdeckt, der mehr für sie war als nur ein Manager: Asso soll Piaf dabei geholfen haben, jene Bühnenperson von sich zu kreieren, die sie einige Jahre später weltberühmt machen würde.
Außerdem wird es Raymond Asso zugeschrieben, dass Piaf von nun an einheitlich den Künstlernahmen Edith Piaf und nicht mehr Môme Piaf verwendete.
Asso stand ihr in sämtlichen Fragen zur Seite: Wie sollte sie sich auf der Bühne kleiden? Wie sollte sie diese oder jene Stelle in einem Chanson interpretieren? 

Theater

Das Chanson Mon légionnaire, zu dem Raymond Asso den Text verfasste, war Edith Piafs erster großer Erfolg als Chansonsängerin: Die Komponistin Marguerite Monnot schrieb die Musik zum Chanson – mit der Komponistin verband Piaf eine lebenslange Freundschaft.
Die Besatzungszeit in Frankreich stellte für Piaf kein Hindernis dar, ihre Karriere fortzusetzen: Für sie zählte ihr künstlerisches Vorankommen. Neben ihrer Tätigkeit als Chansonnière war sie im Paris der Vierziger auch auf Theaterbühnen zu sehen.
Eines Abends traf Piaf in Paris den Schriftsteller Jean Cocteau: Cocteau entschloss sich, für Piaf ein Theaterstück in einem Akt mit dem Titel Le Bel Indifférent zu schreiben. Das etwa halbstündige Theaterstück war Piaf auf den Leib geschrieben und war ein einziger Monolog – die Piaf war die einzige Schauspielerin in dem Theaterstück. 

Bei ihr war jede einzelne Darbietung eines Chansons dramaturgisch durchdacht wie eine Theaterinszenierung. 

« ARRÊTEZ LA MUSIQUE ! »

Als der Komponist und Liedtexter Michel Emer das Chanson L’accordéoniste für Piaf schrieb, fügte Piaf dem Chanson, wie so oft bei ihren Interpretationen, eine eigene Note hinzu: Am Ende des Chansons befiehlt Piaf « ARRÊTEZ ! Arrêtez la musique ! » (zu deutsch: „Hört auf! Hört auf, Musik zu spielen!“) und das Orchester fügt sich ihrer Anweisung umgehend.
Als Piaf das Chanson L’accordéoniste zum ersten Mal im Bobino, einer der renommierten Pariser Bühnen, zum Besten gab, fragte sich das Publikum bei der „ARRÊTEZ“-Passage, ob das Mikrofon defekt sei oder die Künstlerin ein anderes Problem habe. Dabei war es nichts anderes als ein dramaturgisches Element, wie das Publikum schon bald verstand. Solche persönlichen Noten konnte nur Edith Piaf ihren Chansons glaubwürdig hinzufügen – bei ihr war jede einzelne Darbietung eines Chansons dramaturgisch durchdacht wie eine Theaterinszenierung. 

Botschafterin der Chansonkultur

Im August 1944 begegneten sich Edith Piaf und der junge Chansonsänger Yves Montand zum ersten Mal: Piaf sah großes Potenzial in dem jungen Montand und half ihm, Zugang zu Engagements an renommierten Pariser Bühnen zu erhalten.
In den Vierzigern wird Edith Piaf zum zukünftigen Chansonstar der Pariser Music Halls gekürt: Sie hatte ihre ersten großen Erfolge und stellt sich ihre kreative Mannschaft zusammen, die ihr in den kommenden Jahren unzählige Chansons auf den Leib dichten und den Namen Edith Piaf in aller Welt zum Synonym für das französische Chanson machen sollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand für Edith Piaf ein längerer Aufenthalt in den Vereinigten Staaten auf dem Terminkalender – dieser Aufenthalt kam ihr gelegen, nicht zuletzt, um sich der hitzigen Debatte um  die Kollaboration von Künstlern im besetzten Frankreich zu entziehen. In Amerika wusste man zunächst nicht recht, was man mit der Chansonsängerin anfangen sollte – erst im Laufe der Fünfziger wurde Piaf auch in den USA zu einer Botschafterin der französischen Chansonkultur.

Leiden

Nach dem Tod ihres Liebhabers Marcel Cerdan 1949 begann für Edith Piaf eine neue Phase in ihrem Leben: In den Fünfzigern zeichnete Edith Piaf einen Großteil jener Lieder auf, für die sie heute maßgeblich bekannt ist. Sie arbeitete unter anderem mit Georges Moustaki zusammen, der für sie das Chanson Milord schrieb. 1951 wurde der junge Charles Aznavour der persönliche Sekretär von Edith Piaf – im Gegenzug beriet Piaf einige Jahre später ihren ehemaligen persönlichen Sekretär, als er selbst eine Karriere als Chansonnier beginnen wollte.
Obwohl die Fünfziger Edith Piafs künstlerischer Höhepunkt waren, war das Jahrzehnt von vielen seelischen und körperlichen Leiden geplagt: Ende der Fünfziger war Piaf am Ende ihrer Kräfte angelangt – betrachtet man Bilder von Piaf aus dieser Zeit, erhascht man einen Blick auf das Ausmaß ihrer Leiden. 

Non, je ne regrette rien

Ende der 1950er versuchten der Komponist Charles Dumont und der Texter Michel Vaucaire der bettlägerigen Piaf ein Lied vorzuspielen, das sie ihr auf den Leib gedichtet hatten: Es handelte sich um das Chanson Non, je ne regrette rien.
Doch Edith Piaf stellte sich zunächst quer: Sie wollte von so einem Chanson nichts wissen. Eines Tages gab Piaf den beiden akribischen Musikern, die es immer wieder versuchten, jedoch nach und hörte sich das Chanson an.
Als Piaf zum ersten Mal Non, je ne regrette rien hörte, wurde ihr klar: Jenes Chanson würde der Höhepunkt ihres Vermächtnis als Chansonsängerin sein. Hört man sich eine Piaf-Interpretation von Non, je ne regrette rien an, fällt auf, dass Piaf ihre gesamte noch verbliebene Lebensenergie in dieses Chanson steckte: Als Piaf die Premiere des Chansons Ende 1960 am Pariser Olympia feierte, war es nicht nur eines der größten Comebacks eines Künstlers im 20. Jahrhundert, sie soll mit ihrem Comeback auch das prestigeträchtige Olympia vor dem finanziellen Ruin bewahrt haben.  

Piaf-Chansons erzählen die Geschichte von jedem einzelnen Musiker und Dichter, der an den Chansons beteiligt war.

Marguerite Monnot

 Hört man sich Chansons von Edith Piaf an, erzählen diese Chansons nicht nur die Lebensgeschichte der Sängerin selbst: Piaf-Chansons erzählen die Geschichte von jedem einzelnen Musiker und Dichter, der an den Chansons beteiligt war. Besonders mit der französischen Komponistin Marguerite Monnot realisierte Piaf unzählige Projekte, darunter Milord oder Hymne à l’amour. Monnot hatte Piaf auch die Idee zu La vie en rose zuerst präsentiert, Piaf entschied sich aber, das Chanson mit ihrer Freundin Marianne Michel zu produzieren.
Die Bühnenpräsenz der Piaf war nicht nur faszinierend, sie war zutiefst widersprüchlich: Ihr frommes, schwarzes Kleid, das sie auf der Bühne trug und ihr Halsschmuck in Form eines Kreuzes standen in großem Gegensatz zu ihrem Lebensstil, der dem typischen Lebensstil der damaligen Epoche keineswegs entsprach. 

Der Maßstab Piaf – unerreichbar

In den chaotischen Zeiten ihres Lebens stand ihr oft ihre Freundin Marlene Dietrich bei. Piaf soll auch angeregt haben, dass Marlene Dietrich das Chanson La Vie En Rose in ihr Repertoire aufnehmen solle. Bisher war es immer so gewesen: Wenn Marlene Dietrich das Chanson einer anderen Künstlerin interpretierte, wurde ihre Version stets das Maß der Dinge. Doch La Vie En Rose bildete eine Ausnahme: Obwohl Marlene das Chanson mehrmals interpretierte, blieb Edith Piafs Originalversion bis heute der Maßstab, an dem sich alle weiteren Interpretationen messen müssen.
Zugegebenermaßen handelt es sich im Falle von Edith Piaf um einen unerreichbaren Maßstab – das Phänomen Edith Piaf wird es in dieser Form ganz sicher kein zweites Mal geben.  

Simon von Ludwig


Maßgebliche Quellen:

  • Salié, Olaf: Chanson: Leidenschaft, Melancholie und Lebensfreude aus Frankreich, 2021 Prestel Verlag
  • Bensoussan, Albert: Edith Piaf, 2013 Éditions Gallimard
  • Bemmann, Helga: Marlene Dietrich – Ihr Weg zum Chanson, 1990 Verlag Lied der Zeit

Beitragsbild: Edith Piaf 1962 in Rotterdam
Bildnachweis: Fotograaf Koch, Eric / Anefo, Nationaal Archief, CC0


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