Orson Welles bekannte einst, er sei der größte Clown in der Geschichte des Films  gewesen: Buster Keaton soll zwar selber sehr ungerne Bücher gelesen haben, er lernte aber früh, ein Publikum zu lesen.
Es gibt Komiker, die im Showbusiness aufgewachsen sind – und dann gibt es Buster Keaton: Durch seine Eltern, die beide im Vaudeville tätig waren, erfuhr Keaton seine erste namentliche Erwähnung als Mitwirkender in einem Vaudeville-Act im Alter von elf Monaten. Man kann also fast sagen, er kaum auf der Bühne zur Welt.
Das Vaudeville-Programm seiner Eltern war an einem toten Punkt angelangt: Dann kam ihr Sohn, Buster Keaton, ins Spiel. Schon bald war es so weit, dass Buster Keatons Name als größter Name auf den Plakaten stand und die Namen seiner Eltern in kleiner Schrift unter dem seinen standen.
Buster Keaton sagte später, er habe nie eine richtige Kindheit gehabt – eine Schule besuchte er ebenfalls nie, die Bühne war seine Schule. 

Keaton war fasziniert von der neuen Kunstform des Films.

Broadway – oder doch zum Film?

Die Zeit bei den Three Keatons, wie sich die Familie nannte, war von einem strengen Terminplan geprägt: Man gab an verschiedenen Orten zwei bis drei Shows pro Tag und das 48 Wochen im Jahr. Trotzdem war es für Keaton eine glorreiche Zeit – er lernte ungemein viel über sein Handwerk – ein Umstand, der ihm später sehr gelegen kommen sollte. Wenn auch nicht auf der Bühne, sondern vor einer Filmkamera.
Im Januar 1917 trennte sich Buster Keaton vom familiären Vaudeville-Programm: Die Reise führte ihn zunächst nach New York, wo er plante, in einem Broadway-Stück aufzutreten. Zwei Tage vor Probenbeginn des Broadway-Stücks wurden seine Pläne jedoch durchkreuzt: In Roscoe („Fatty“) Arbuckles Comique Film Corporation in Manhattan wurde gerade an einem neuen Kurzfilm gearbeitet. Da er einen alten Freund kannte, der nun bei in Studios der Comique Film Corporation arbeitete, erhielt er so seine erste Filmrolle im Kurzfilm The Butcher Boy (1917). Er war so fasziniert von der neuen Kunstform des Films, dass er bei den Studios gleich einen Vertrag unterschrieb und seinen Vertrag am Broadway kündigte. Er hatte sich so sehr in den Film verliebt, dass es ihm sogar egal war, was er nun verdiente: Er verdiente anfangs bei Arbuckles Comique Film Corporation lediglich etwas mehr als ein Zehntel dessen, was er bei den Three Keatons verdient hatte. 

Der Stummfilm

1917 stand noch lange nicht fest, welche Bedeutung der Filmindustrie in Zukunft zukommen würde: Wer sich als Komiker für den Film entschied, ging ein enormes Risiko ein, denn die Bühne und das Live-Ereignis waren damals beim Publikum noch bedeutend höher eingestuft als das neue Medium Film.
Keaton faszinierte am Medium des Films vor allem, dass alles möglich schien: Das Filmset glich für Keaton einem Spielplatz, auf dem man unendlich viele Abenteuer erleben konnte und diese Abenteuer dem Publikum zugänglich machen konnte.
1920 trat Buster Keaton in seinem ersten Kurzfilm auf, bei dem er auch Regie führte: One Week (1920) ist bis heute eine eine Stummfilm-Komödie par excellence. Die Zwanziger waren Buster Keatons goldenes Jahrzehnt: Es war das Zeitalter des Stummfilms und nur die wenigsten kannten sich so gut mit Stummfilm-Komödien aus wie Buster Keaton. Er übernahm in Filmen nicht nur diverse Rollen als Schauspieler, er schrieb einen Großteil der Gags und war am gesamten kreativen Prozess, der hinter einem Comedy-Film steckte, beteiligt. Mit seinen Stunts, bei denen er nicht selten Leib und Leben riskierte, verewigte er sich. 

„Nichts vortäuschen“

Drehte Buster Keaton einen Gag, hatte er eine Bedingung: Der Gag musste mit einem Take abgedreht sein. Getreu dem Motto „Nichts vortäuschen“ wurde jeder Gag aus einem Film entfernt, der beim ersten Take nicht funktionierte. Das Ergebnis dieses Mottos war eine enorme Authentizität, die allen Filmen zugrunde lag, in denen Keaton mitwirkte.
Je weniger Bewegungen Keaton vor der Kamera zeigte, desto mehr lachte das Publikum: Diese Erfahrung hatte er schon als Kind auf der Bühne gemacht. Die vermeintliche Emotionslosigkeit, mit der Buster Keaton viele Rollen spielte, war eines der Geheimnisse von Keatons Kunst. Im Comedy-Streifen Steamboat Bill, Jr. (1928) fällt eine ganze Hausfassade auf Buster und er bleibt unverletzt, weil er exakt an der Stelle steht, an der sich eine viereckige Öffnung in der Fassade befindet. Er behält inmitten der herumfliegenden Trümmer seinen eisernen und ausdruckslosen Gesichtsausdruck. Ein Lachmoment für das Publikum.
In The Playhouse (1921) schlüpfte Keaton gleich in alle Rollen, die der Film zu bieten hatte: Im Film gibt er die Rolle des Schauspielers, Bühnenarbeiters, des Dirigenten und von sämtlichen Menschen aus dem Publikum zum Besten. The Playhouse stellt zur Schau, welch facettenreiches Schauspiel Buster Keaton als One-Man-Show auf die Beine stellen konnte. Es soll Zuschauer gegeben haben, die nicht merkten, dass Keaton sämtliche Rollen in dem Film The Playhouse spielte… 

Vorher war er unabhängig, jetzt war er nur ein Angestellter bei den MGM Studios. 

Kreativer Abgesang  

„Es wird dein Urteilsvermögen korrumpieren“, sagte Charlie Chaplin zu Buster Keaton, als er davon hörte, dass Keaton fortan bei MGM unter Vertrag stehen würde. Auf Anraten seines Managers und Produzenten begab sich Keaton im Juni 1928 in die Obhut der MGM Studios – damit begann Buster Keatons künstlerischer Niedergang. Für die Verantwortlichen bei MGM waren die Aufnahmemethoden von Keaton viel zu verschwenderisch: Keaton hatte die Angewohnheit, viel mehr Aufnahmen anzufertigen, als im Endeffekt für das Endprodukt benötigt wurden. Diese Methode war zwar kostspielig, aber so wurde sichergestellt, dass nur die authentischsten und wirkungsvollsten Gags in den finalen Film gelangten. Für Keaton war es ein großer Umstieg: Vorher war er unabhängig, jetzt war er nur ein Angestellter bei den MGM Studios. 
Keaton wurde 1933 aus dem Vertrag bei MGM entlassen, 1940 wurde seine Produktionsfirma Keaton Productions Inc., die einst Inbegriff seiner künstlerischen Tätigkeit war, abgewickelt.
Das goldene Zeitalter für Buster Keaton war vorbei – ohnehin war der Stummfilm Anfang der Dreißiger Schnee von gestern, man konzentrierte sich nun auf den Tonfilm. 

„Es wäre lächerlich, wenn ich mich beklagen würde.“

Das, was nun in Buster Keatons Karriere folgte, war nur noch eine Reminiszenz an das, was einst war: Keatons Rolle als er selbst in Billy Wilders Sunset Boulevard (1950) beschreibt diesen Zustand. An der Spitze der Besetzung in Sunset Boulevard stand Gloria Swanson, die selbst eine Legende des Stummfilms war: Buster Keaton spielt im Film einen Bridge-Partner von Swanson  und erinnert mehr an eine Wachsfigur als einen Schauspieler. Das war auch gewollt: Kaum zwanzig Jahre nach dem Ende der Stummfilmzeit schien der Stummfilm fern wie nie und sämtliche Schauspieler aus dieser Zeit gerieten in Vergessenheit. Schon damals war die Filmwelt schnelllebig – was gestern gefragt war, ist morgen schon vergessen. Buster Keatons Kunst fiel diesem Fortschritt zum Opfer. Doch Keaton selbst sagte: „Es wäre lächerlich, wenn ich mich beklagen würde.“
Keaton gilt als einer der facettenreichsten Stummfilmschauspieler: Sein Name wird in einem Atemzug mit Legenden wie Charlie Chaplin genannt und er schuf mit seiner Kunst die Grundlage für das, was sich heute Comedy nennen darf. 

Simon von Ludwig


Maßgebliche Quelle: Lahr, John: Buster Keatons Visage (Der Mann, der niemals lachte – Der größte Clown der Filmgeschichte), in: Lettre International Nr. 140 (Frühjahr 2023), S. 84ff.

Beitragsbild: © Simon von Ludwig


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