Einer seiner Lehrer soll einst zu Spencer Tracy gesagt haben, er sei der „geborene Jurist“: Im Endeffekt war die Rolle eines Juristen – wie im Gerichtsfilm Urteil von Nürnberg [Judgment at Nuremberg, 1961] – nur eine von unzähligen verschiedenen Rollen, die Spencer Tracy im Laufe seiner Karriere spielen sollte. Womöglich gab jener Lehrer diese Einschätzung ab, um die Gunst von Tracys Eltern zu gewinnen: Spencer Tracys Eltern erkannten zwar das enorme schauspielerische Potenzial, das in ihrem Sohn steckte, doch zunächst wünschten sie sich, dass er einem regulären Beruf nachgehen würde…
Erst als Spencer Tracy 1922 die Möglichkeit erhielt, an der American Academy of Dramatic Arts in New York Schauspiel zu studieren, änderte sich die Auffassung seiner Eltern: Dank der Tournee seines Debattierclubs, die in einigen Städten im Norden der USA Station machte – so auch in New York – bekam er die Möglichkeit, an der wohl renommiertesten Schauspielschule der US-amerikanischen Ostküste vorzusprechen. Anfangs war Tracy noch zögerlich, weil er fürchtete, er sehe nicht gut genug aus, um Schauspieler zu werden: Doch man beruhigte ihn, eine gute Stimme, wie er eine besaß, sei wesentlich wichtiger als ein auffallend hübsches Gesicht. Außerdem hieß es, sein maskuliner Typ, wie man ihn in dieser Form selten vorfand, besäße durchaus Potenzial, das Publikum zu begeistern. 

Der Weg für junge Schauspieler führte meist an den Broadway.

American Academy of Dramatic Arts

Seine Eltern gingen, obwohl Tracy mittlerweile an der American Academy of Dramatic Arts unterrichtet wurde, davon aus, dass die Schauspielerei bloß ein Intermezzo im Leben ihres Sohnes bleiben würde: Damals wie heute war es alles andere als garantiert, dass man als Schauspielstudent Rollen finden würde. Der Weg für junge Schauspieler führte meist an den Broadway, wo einem zunächst nur Rollen gegeben wurden, die wenig über das Statisten-Dasein hinausgingen. Ohnehin war es alles andere als einfach für Spencer Tracy, aus den Reihen der Schauspielstudenten der American Academy of Dramatic Arts hervorzustechen: Viele der Studenten dort hatten nicht unbedingt vor, später Schauspieler zu werden. Unter den Studenten waren viele junge Frauen aus wohlhabendem Hause – sogenannte Debütantinnen – für die ein Besuch der Academy of Dramatic Arts zu den Verpflichtungen dazugehörte, die eine wohlhabende Herkunft mit sich brachte. 

Stock companies

Doch Spencer Tracy meinte es ernst mit der Schauspielerei: Zwar musste er sich in New York für einige Zeit mit Gelegenheitsjobs durchschlagen, doch schon bald bot sich eine Möglichkeit für den jungen Schauspieler, sich zu behaupten: Im New York der frühen Zwanziger gab es neben dem Broadway noch eine weitere Theater-Institution, die sogenannten stock companies. Diese Form des Theaters stammte ursprünglich aus dem England der elisabethanischen Ära und fand damals in den USA noch vereinzelt Anwendung. Eine stock company umfasste ein festes Ensemble an Schauspielern, die in einem Theater regelmäßig auftraten – allerdings spielten sie jeden Abend ein anderes Stück aus dem vorbereiteten Repertoire. Das stellt einen großen Unterschied dar zum Repertoiretheater, das an feste Spielpläne gebunden ist und ein Stück über mehrere Monate darbietet. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verdrängte das Repertoire-Theater die stock companies gänzlich. 
Doch Spencer Tracy profitierte enorm davon, dass er in den 1920ern das Ensemblemitglied von stock companies gewesen war: Die Anforderung, seine Rolle in mehreren Stücken im Kopf zu haben und die Bereitschaft, jeden Abend ein anderes Stück darzubieten, schulte die schauspielerischen Fähigkeiten des jungen Spencer Tracy enorm. Es dauerte nicht lange, bis Spencer Tracy zum lead actor der Leonard Wood Players stock company avancierte. Das war ein großer Schritt in der Karriere Spencer Tracys: Nicht nur konnte er fortan mit der Schauspielerei seinen Lebensunterhalt bestreiten, bei den Leonard Wood Players traf er ebenfalls seine spätere Ehefrau Louise Treadwell. 

Die „Bretter, die die Welt bedeuten“

Doch Spencer Tracy war noch weit davon entfernt, ein gefragter Schauspieler zu sein: Im Laufe der Zwanziger hatte der junge Schauspieler immer wieder mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen, die Weltwirtschaftskrise trug zusätzlich dazu bei, dass viele Theater schlichtweg keinen Bedarf an Schauspielern hatten. Tracy sagte selbst später, dass er ein schlechtes Gespür dafür habe, ob ein Theaterstück zu einem Hit werden würde – so kam es, dass er in den Zwanzigern Rollen in einigen Theaterstücken ausschlug, die zu großen Hits wurden. 
Erst als Spencer Tracy 1930 im Broadway-Stück The Last Mile mitwirkte, konnte er auch die Aufmerksamkeit der Film- und Theaterwelt außerhalb von New York auf sich ziehen: Nichtsdestotrotz blickte Spencer Tracy pessimistisch in die Zukunft. Bei ihm überwogen nach wie vor die Zweifel, ob er es zu einem gefragten Film- und Theaterdarsteller bringen würde: Trotzdem dachte er nicht daran, die Schauspielerei aufzugeben – es waren die „Bretter, die die Welt bedeuten“, die Tracy davon abhielten, einen anderen Beruf zu ergreifen.
Spencer Tracys Ausdauer sollte sich auszahlen: Der Hollywood-Regisseur John Ford – heute gilt er als eine der Regisseur-Legenden schlechthin – verpflichtete Tracy für den Film Up the River (1930). Tracy spielte an der Seite von Humphrey Bogart, für den es der zweite Hollywood-Film überhaupt war. 

Hätte Tracy in den Zwanzigern bereits in Stummfilmen mitgespielt, wäre er vermutlich niemals ein Tonfilmstar geworden.

Perfektes Timing

Es war Anfang der Dreißiger der perfekte Zeitpunkt für einen Broadway-Schauspieler, um eine Leinwandkarriere zu beginnen: 1930 hatte man erkannt, dass der Tonfilm den Stummfilm komplett ablösen würde. Hätte Tracy in den Zwanzigern bereits in Stummfilmen mitgespielt, wäre er vermutlich niemals ein Tonfilmstar geworden: Anfang der Dreißiger rekrutierten die Hollywood-Studios unzählige Schauspieler am New Yorker Broadway. Unter ihnen waren Irene Dunne, Bette Davis, Barbara Stanwyck, Robert Montgomery und Spencer Tracy. 
Von 1930 bis 1935 stand Spencer Tracy bei den Fox Studios unter Vertrag: John Ford sagte über das erste Mal, als Tracy vor einer Kamera stand: „Es gab keinerlei Unbehagen. Spence verhielt sich so natürlich, als ob er gar nicht wüsste, dass da eine Kamera ist, oder als ob schon immer eine Kamera da gewesen wäre, wenn er gespielt hatte. (…) Er verstand es, eine ernsthafte Zeile von einer humorvollen Zeile zu unterscheiden.“ (Originalzitat: “There was no awkwardness at all. Spence was as natural as if he didn’t know a camera was there, or as if there had always been a camera when he acted before. (…) He knew a straight line from a laugh line.“)
Für Spencer Tracy bedeutete der Umzug nach Hollywood eine große Veränderung: Nicht nur stand er fortan vor der Kamera statt auf einer Broadway-Bühne, materielle Sorgen mussten sich er und seine Familie fortan keine mehr machen. Bereits sein Vertrag mit den Fox Studios gewährte ihm jährliche Einkünfte von mindestens 70.000 Dollar, das entspräche heute knapp 1,5 Millionen Dollar. 

Katharine Hepburn und Urteil von Nürnberg

Seine beeindruckendsten Filmrollen spielte Spencer Tracy allerdings nicht, als er bei den Fox Studios unter Vertrag war: Als Tracy Mitte der Dreißiger bei MGM unter Vertrag genommen wurde, soll bereits festgestanden haben, dass er zu einem der „wichtigen MGM-Stars“ avancieren würde. 
Mit dem Film San Francisco (1936), der die Ereignisse des großen Erdbebens von San Francisco 1906 nacherzählt, wurde Spencer Tracy bei Kritik und Publikum zu einem der begehrtesten Stars überhaupt: Zwar war Clark Gable der Star des Films, doch für Spencer Tracy war der Film das Sprungbrett zum Erfolg. Spencer Tracy blieb zwei ganze Jahrzehnte bei MGM unter Vertrag – die insgesamt neun Filme umfassende Zusammenarbeit mit Katharine Hepburn ist wesentlicher Bestandteil von Tracys Vermächtnis als Schauspieler. 
Zu den bekanntesten Werken mit Spencer Tracy in der Hauptrolle zählen ohne Frage Der alte Mann und das Meer [The Old Man and the Sea, 1958] und Urteil von Nürnberg [Judgment at Nuremberg, 1961]. Besonders in Urteil von Nürnberg spielte Tracy an der Seite von Marlene Dietrich eine seiner tiefgründigsten, wenn auch historisch brisantesten Rollen: Kein anderer als Spencer Tracy wäre für solch eine Rolle geeignet gewesen, die einen jeden Schauspieler an seine darstellerischen Grenzen bringt. Tracy ging mehrmals im Laufe seiner Karriere an seine darstellerischen Grenzen und darüber hinaus – mit Bravur. 

Simon von Ludwig


Beitragsbild: © Simon von Ludwig

Maßgebliche Quelle: Swindell, Larry: Spencer Tracy, 1974 Coronet Books


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