„Theorie allein macht keinen Fußballspieler“, schrieb Fritz Walter einst in seinen Memoiren. Als die deutsche Nationalmannschaft zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in die Schweiz einreiste, sollen die Zöllner besonders zuvorkommend gewesen sein: Man habe der deutschen Nationalmannschaft zwar wenig zugetraut, trotzdem fragten die Schweizer Zöllner die deutschen Nationalspieler nach Autogrammen – schließlich kann man ja nie wissen, was kommt…
Der Fußball-Weltmeisterschaft 1954, ohne Frage der größte Triumph in der Fußballkarriere von  Fritz Walter, ging eine lange Geschichte voran.
Der Journalist Rudi Michel, der den Fußballer während seiner Karriere begleitete, erinnerte sich später an die Anfänge von Fritz Walters Fußballkarriere: Als „Klein Fritzchen“ begeisterte der junge Fritz Walter bereits in sehr jungen Jahren die Fußballfans in seiner Heimatstadt Kaiserslautern. Sein Fußball-Geschick eignete er sich beim Fußballspielen in den Kaiserslauterer Straßen an: Es heißt, der junge Sportler habe bereits in den Dreißigern bis zu 2500 Fans gleichzeitig unterhalten. 

Degradiert zum Kriegsgefangenen

Eingefleischte Anhänger waren sich früh einig: Fritz Walter würde es eines Tages zum Nationalspieler bringen. So kam es auch: Am 14. Juli 1940 trug Fritz Walter im Alter von 19 Jahren zum ersten Mal das Trikot der Nationalmannschaft in einem Spiel gegen Rumänien. Seine Fußballkarriere wurde jedoch zunächst vom Zweiten Weltkrieg unterbrochen: Im Dezember 1940 wurde Fritz Walter zum Militärdienst eingezogen.
Für einen Spieler der deutschen Nationalmannschaft galten jedoch besondere Maßgaben: Als Sportler mussten die Spieler „greifbar bleiben“, das heißt, man schickte sie nicht an die Kriegsfront, sondern in die Garnisonen.
Fritz Walter verbrachte jedoch nicht den gesamten Krieg in der relativen Sicherheit der Garnisonen: Am Ende des Krieges befand er sich an der Ostfront. Dort geriet er Mitte Mai 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft – viele seiner Kameraden mussten den Marsch in die Kriegsgefangenenlager antreten und kehrten erst Jahre später zurück in ihre Heimat, wenn überhaupt. Für Fritz Walter, der vom Nationalspieler zum durchnummerierten Kriegsgefangenen degradiert wurde, schien es zunächst eine ausweglose Situation zu sein… 

Ohne das „Wunder von Marmaros-Sziget“ hätte es das „Wunder von Bern“ vielleicht nie gegeben. 

Das Wunder von Marmaros-Sziget

Fritz Walter gelangte in ein Auffanglager im rumänischen Marmaros-Sziget, von wo aus die meisten Gefangenen weiter in die Sowjetunion transportiert wurden. Die Lagerpolizei bestand hauptsächlich aus gefangenen Slowaken und Ungarn – und hatte offensichtlich ein Faible für den Fußballsport. Als eines Abends die Lagerpolizei Fußball spielte und Fritz Walter der Ball direkt vor die Füße fiel, stieg der Profifußballer in das Spiel ein. Sein Können sprach für ihn: Nach der zweiten Halbzeit des Spiels war Walter kein unbekannter Kriegsgefangener mehr, sondern ein gefeierter Fußballspieler. Sein fußballerisches Können rettete Fritz Walter vermutlich das Leben: Ihm wurde versprochen, man würde ihn nicht an die Sowjetunion ausliefern. Die Lagerpolizisten überredeten den verantwortlichen sowjetischen Hauptmann, alles in die Wege zu leiten, damit Fritz Walter zurückkehren konnte in seine Heimatstadt Kaiserslautern.
Diese Geschichte war der Grund, weshalb Fritz Walter später nicht das Finalspiel der Fußball-WM 1954 in Bern als das wichtigste Spiel seines Lebens bezeichnete, sondern das Fußballspiel im Lager von Marmaros-Sziget. Ohne das „Wunder von Marmaros-Sziget“ hätte es das „Wunder von Bern“ vielleicht nie gegeben. 

Sportanlage Betzenberg

Nach seiner Rückkehr in die Heimat stellte sich Fritz Walter folgende Frage: Sollte er zu seiner Arbeit als Bankangestellter zurückkehren oder würde er sich komplett dem Fußball verschreiben?
Alte Mitglieder des 1. FC Kaiserslautern sollen den Fußballspieler dazu bewegt haben, sich vollumfänglich dem Verein zu verpflichten: Fritz Walter übernahm nicht nur die Rolle eines Spielers, er war auch Trainer, Spielführer und Geschäftsführer. Womöglich war Fritz Walter einer der ersten Fußballer, die den Fußball mit all seinen geschäftlichen Elementen als Vollzeitjob wahrnahmen – von Millionengagen für Top-Fußballspieler war man noch weit entfernt.
In der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Fußballspieler Nahrungsmittel als Gage, um überhaupt zu sportlichen Leistungen in der Lage zu sein.
Einen Durchbruch konnte Fritz Walter erreichen, als die Sportanlage auf dem Betzenberg – heute bekannt als das Fritz-Walter-Stadion – von der französischen Besatzungsmacht wieder freigegeben wurde. Dank der Hilfe seiner späteren Frau Italia, die als Dolmetscherin beim französischen Stadtkommandanten arbeitete, konnte ein Arrangement getroffen werden: Fritz Walter trainierte zweimal die Woche die französische Soldatenmannschaft, im Gegenzug gab die Besatzungsmacht die Sportanlage frei. 

Aufstieg eines Vereins

Die Sportanlage befand sich in einem desaströsen Zustand: Die Vereinsmitglieder selbst brachten durch großen körperlichen Einsatz die Sportanlage wieder auf Vordermann.
Fortan diente die Sportanlage auf dem Betzenberg als Trainingsstätte für den 1. FC Kaiserslautern – im ersten Spiel, das dort ausgetragen wurde, spielte der Verein gegen den französischen Spitzenclub St. Etienne. Welch eine Entwicklung: Gerade noch war der Verein in den Wirren des Zweiten Weltkriegs versunken, nun spielte er schon gegen einen französischen Spitzenclub.
Das war nicht zuletzt der Verdienst Fritz Walters.
Die darauffolgenden Jahre stellten für den Fußball in der Region um Kaiserslautern eine langsame Rückkehr zum Fußball-Alltag dar: Fritz Walters enormes Talent zum Fußballspiel blieb nicht unbemerkt in der Welt des Fußballs. 1951 erhielt Walter ein Angebot vom spanischen Fußballverein Atlético Madrid: Man bot ihm ein – für damalige Verhältnisse – enormes Gehalt und verschiedene Privilegien an. Fritz Walter lehnte ab: Er hatte sich zum Ziel gesetzt, bei seinem Heimatverein zu bleiben – diese Entscheidung sollte sich in einigen Jahren als goldrichtig erweisen. 

Ein Wunder wird vorbereitet

Man kann sagen, Fritz Walter wurde dafür belohnt, dass er über Jahre hinweg seinem Heimatverein die Treue hielt: Der 1. FC Kaiserslautern lieferte in den Fünfzigern eine beispiellose Leistung als Fußballverein ab. In den Jahren 1947 bis 1957 wurde der Kaiserslauterer Verein jedes Mal Meister der Oberliga Südwest, außerdem wurde der 1. FC Kaiserslautern in den Jahren 1951 und 1953 deutscher Fußballmeister.
An eine Teilnahme Deutschlands an der internationalen Fußball-Weltmeisterschaft war in den Nachkriegsjahren nicht zu denken: Die FIFA brach die Sportbeziehungen zu allen deutschen Verbänden ab und verhängte gar ein Verbot an andere Verbände, mit Deutschland Sportbeziehungen zu führen. Erst im Mai 1949 erreichte man eine Aufhebung dieses Verbots.
Für die Weltmeisterschaft 1950 blieb die deutsche Fußballnationalmannschaft trotzdem noch ausgeschlossen, erst für die WM 1954 gestattete man der deutschen Mannschaft, an der Qualifikation teilzunehmen. Walter war seit April 1951 Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft: Somit hatte er eine Schlüsselrolle inne in der Qualifikation zur WM 1954 und bei den sich anschließenden Spielen der Weltmeisterschaft. 

Fritz Walter, der Fußballspieler aus Kaiserslautern, war einer der Architekten des „Wunders von Bern“.

Architekt eines Wunders

Als sich die deutsche Nationalmannschaft für das Finalspiel der WM 1954 qualifizierte, standen sämtliche Spieler plötzlich mitten im öffentlichen Interesse: Der Druck, der auf den Schultern der Spieler lag, im Finalspiel nicht zu versagen, muss immens gewesen sein. Die Nachwelt ist der Ansicht, dass es beim Finale der Fußball-WM 1954 um mehr ging als nur um einen Sportwettbewerb: Für die sich im Aufbau befindende Bundesrepublik Deutschland war es ein Durchbruch, der den Deutschen ein Stück Nationalstolz zurückgab. Oft liest man gar, der 4. Juli 1954, der Tag, an dem Deutschland die WM 1954 gewann, sei das eigentliche Gründungsdatum der Bundesrepublik.
Fritz Walter gewann gemeinsam mit der deutschen Mannschaft eine WM, in die Deutschland als relativ aussichtsloser Kandidat eingestiegen war: Fritz Walter, der Fußballspieler aus Kaiserslautern, war einer der Architekten des „Wunders von Bern“.
Nach dem phänomenalen Erfolg 1954 stellte Fritz Walter sein fußballerisches Können noch einige Jahre der deutschen Nationalmannschaft zur Verfügung – nach der WM 1958 verabschiedete sich der Weltmeister jedoch aus der Mannschaft und beendete seine Fußballkarriere. In späteren Jahren konnte man Fritz Walter persönlich bei seinen Autogrammständen begegnen, die ihn in verschiedene deutsche Städte führten. Er blieb auch weiterhin der Region Kaiserslautern treu – wenn er nicht gerade unterwegs war, weilte er in seinem Bungalow in Enkenbach-Alsenborn. 

Simon von Ludwig


Beitragsbild: Fussball-Weltmeisterschaft 1954: Finalspiel Deutschland – Ungarn (3:2) im Wankdorfstadion in Bern. Erste Halbzeit, 42. Minute: Gefahr für das Tor der Ungarn. Schäfer hat sich auf der linken Sturmseite durchgesetzt und schießt mit großer Wucht auf das Tor der Ungarn. Im Bild von links nach rechts: SR Ling, Zakarias (U) (6), Horst Eckel (D) (hinten), Hidegkuti (U), Fritz Walter (D), Hans Schäfer (D).

Bildnachweis: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_M03-0108-005-0021 / CC BY-SA 4.0

Maßgebliche Quellen: Walter, Fritz: 3:2 – Deutschland ist Weltmeister, 2020 Copress Edition & Michel, Rudi: Fritz Walter. Die Legende des deutschen Fußballs, 1995 Engelhorn Verlag


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