Teil eins
Es war der 1. Mai 1994: Die Welt stand still. Es herrschte Schockzustand. Es war der Tag, an dem die Sonne vom Himmel fiel, wie Gerhard Berger es formulierte. Sein Freund und Rennfahrerkollege Ayrton Senna, Vorbild einer Rennfahrergeneration, war beim Großen Preis von San Marino in Imola tödlich verunglückt.
Um 14:17 näherte sich Senna der berüchtigten Tamburello-Kurve, zum siebten Mal in jenem Rennen. Kurz hinter dem Scheitelpunkt der Kurve kam Senna von der Strecke ab und schlug seitwärts in die Betonmauer. Das Rennen wurde unterbrochen. Es dauerte keine Minute, bis das Medical Car die Unfallstelle erreichte. Sid Watkins, Chefarzt der FIA für Formel-1-Rennen, erkannte sofort, dass es eine tödliche Kopfverletzung war.
Ayrton Sennas Vorbild
Senna wurde am 21. März 1960 in São Paulo als zweites Kind einer wohlhabenden Familie geboren. Folgt man dem Biograph Tom Rubython, hatte Senna in seinen frühen Jahren eine Koordinationsschwäche: Seine Mutter musste ihm stets zwei Eistüten kaufen, weil er eine einzelne gezwungenermaßen fallen lassen würde.
Durch das Fernsehen wurde der Motorsport in Brasilien in den Sechzigern populärer denn je: Das ging an dem jungen Ayrton Senna keinesfalls vorbei. Sein Idol war Jim Clark: Als Senna mit acht Jahren vom Tod Clarks in Hockenheim erfuhr, brach eine Welt für den Jungen zusammen.
Zu seinem zehnten Geburtstag kaufte ihm der Vater sein erstes richtiges Gokart: Der zehnjährige Ayrton entdeckte seine Leidenschaft, die Koordinationsschwächen waren Schnee von gestern.
In einem Interview vom Juni 1991 formulierte Senna es so:
„Es gibt viele Qualitäten, die ein Fahrer besitzen sollte. (…) Eine davon ist die Möglichkeit, in jungen Jahren anzufangen. Es fängt als ein Hobby an, als etwas, an dem man Spaß hat. Wenn Du diese Möglichkeit hast, dann entwickelst Du das in Deinem Charakter, in Deiner Persönlichkeit, während Du aufwächst.“
Emerson Fittipaldi
Als Senna mit seinem Kart an Nachwuchsrennen teilnahm, war er stets der Jüngste und oft der Schnellste: Da er jünger war, war er kleiner und leichter als die älteren Teilnehmer. Das brachte ihm vor allem auf den Geraden einen enormen Geschwindigkeitsvorteil ein.
Als Senna zwölf Jahre alt war, wurde der Brasilianer Emerson Fittipaldi Weltmeister: Brasilien erschien erstmals auf der Weltkarte des internationalen Motorsports.
In der Folge bewarb sich Brasilien um die Ausrichtung eines Grand Prix bei der Weltmeisterschaft 1973. Die Bewerbung war erfolgreich: Der Grand Prix von Brasilien 1973 wurde von der Heimatstadt Sennas, São Paulo, ausgerichtet.
Fittipaldi gewann den Grand Prix und brachte die 120.000 Zuschauer zum Jubeln. Unter diesen Zuschauern befand sich ein zwölfjähriger Formel-Eins-Begeisterter namens Ayrton Senna…
Fittipaldi war gerade auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, Senna stand erst am Anfang: Kurz nach dem Grand Prix von Brasilien 1973 war Senna alt genug, um an professionellen Kartrennen teilzunehmen. Mehrere Male die Woche fuhr er Tests und schnappte alles auf, was es über Motoren zu lernen gab: Wissen, das ihn später in der Formel Eins bei seinen Teams populär machte. Senna wusste nicht nur, wie er zu fahren hatte, sondern auch, wie er seine Ansprüche technisch realisieren konnte.
1974 gewann Senna die nationale Juniorenmeisterschaft im Kartrennen, 1976 die Seniorenmeisterschaft von São Paulo.
In der Schule soll er seine Zeit mit dem Zeichnen von Rennautos verbracht haben – schon früh schlug sein Herz für das Rennen, alles andere stand hintenan.
Kart-Weltmeisterschaften
Mit achtzehn Jahren trat Ayrton Senna 1978 seine erste Europareise an: Im nordfranzösischen Le Mans fand die Kart-Weltmeisterschaft statt. Im Voraus reiste Senna nach Italien, um an Tests teilzunehmen und sein Können zu perfektionieren.
Bei der Weltmeisterschaft in Le Mans war die Konkurrenz größer als in Brasilien – es war neues Terrain für Senna. In der Weltmeisterschaft-Gesamtwertung landete er auf Platz sechs – eine Leistung, die als so junger Fahrer zwar außergewöhnlich war, ihm aber nicht ausreichte.
Als Senna internationales Terrain betrat und bei Kart-Weltmeisterschaften antrat, ließ seine Gewinnsträhne nach: Zwar befand er sich stets unter den Top Ten, doch Erster wurde er nicht.
Der Mechaniker namens Tché
Zu dieser Zeit traf Senna den spanischen Kartmechaniker Lucio Pascual Gascon (Tché genannt), der bereits der Mentor von Emerson Fittipaldi gewesen war: Er richtete die Rennmotoren während Sennas Kartlaufbahn her. Wenn Senna gerade nicht in der Schule war, verbrachte er seine Zeit in der Werkstatt von Tché und schaute dem Mechaniker über die Schulter.
Zwischen 1977 und 1981 gewann Ayrton Senna verschiedene südamerikanische Meistertitel: In Südamerika war er zu einer Berühmtheit des Kart-Motorsports avanciert.
Es war stets Sennas Anspruch, zu gewinnen: Dass er bei den Kart-Weltmeisterschaften nicht den Sieg davontrug, nagte an seiner Entschlossenheit, es eines Tages zum Formel Eins-Fahrer zu bringen.
Sein Vater merkte das – und schlug ihm vor, zu studieren und sich ein Leben fernab des Berufs-Motorsports aufzubauen…
Simon von Ludwig | Sport bei Der Bussard
Maßgebliche Quellen: Rubython, Tom: „Ayrton Senna: Ein Leben am Limit“, 2013 Delius Klasing Verlag & Jones, Bruce: „Ayrton Senna – Portrait of a racing legend“, 2019 Carlton Books. Das Zitat vom Juni 1991 stammt aus diesem Interview.